JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA
: Immer wieder Jelzin, sternhagelvoll

Zwangsvorstellungen sind anstrengend, aber hochinteressant. Insbesondere für abgeschriebene Politiker

Ach, wenn ich bei dem schönen Diana-Ross-Stück „Chain Reaction“ nur nicht immer an den Domino-Day auf RTL denken müsste! Diese Domino-Umkipp- Geschichte habe ich ohnehin noch nie verstanden. Das Ganze hat für mich ungefähr so viel unterhaltungstechnischen Sexappeal wie „32 heb auf“, ebenfalls ein selten dämliches Spiel. Aber so ist es: Sobald Diana anhebt mit „I’m in the middle of a chain reaction“, sehe ich aberwitzig viele Dominosteinreihen vor meinem geistigen Auge, die auf und ab, in Wellen und Kreisen und über pittoreske Modellbaulandschaften rattern. So lange, bis ich vor Langeweile gähnen muss und die Zwangsvorstellung verfluche, die mir den Musikgenuss verhagelt.

Es gibt allerdings noch viel schlimmere Zwangsvorstellungen. Fast schon pathologischer Natur ist zum Beispiel die meiner Freundin, die keine ungeschälten Kartoffeln, Pfirsiche oder Stachelbeeren anfassen kann, weil sie dabei immer ganz intensiv an haarige Tierköpfe denken muss. Übel daran ist vor allem, dass sie deshalb gezwungen ist, auf fertig geschälte Kartoffeln aus dem Glas auszuweichen. Und die sind natürlich fast so ekelhaft wie frittierte Mars-Riegel, die man angeblich in Schottland futtert, wie ich neulich schaudernd, fast schon würgend gelesen habe. Ich habe meiner Freundin als Therapie schon vorgeschlagen, sich doch einfach vorzustellen, das Haarige seien die Köpfe niedlicher kleiner Kuschelbären oder Schmusemiezekatzen. Aber eine Zwangsvorstellung lässt sich nicht leicht wegfantasieren.

In Hamburg kenne ich einen Fall, bei dem den Betroffenen die olfaktorischen Ausdünstungen des Restaurants im Erdgeschoss seines Hauses immer so stark an die Zeit im Kinderheim erinnerten, dass er die Wohnung wechseln musste. Das ist natürlich traurig, interessant ist aber, dass die Kinderheim-Assoziation relativ weit verbreitet sein muss: Ich habe sie mit dem Geschmack von Möhrchen aus der Dose und den roten Lakritzschnüren. Sobald ich auch nur eine von weitem sehe, habe ich das Gefühl, einen zerrissenen karierten Kittel zu tragen und mit schniefender Nase und traurigen Augen fremde Erwachsene anzubetteln, mich mit nach Hause zu nehmen.

Das alles sind natürlich keine richtigen, behandlungswürdigen Zwangsvorstellungen, solche, bei denen die Patienten an keinem spitzen Winkel und keinem Kratzer vorbeigehen können, weil sie sofort Bilder von kaputten, blutigen Körperteilen im Kopf haben. Gott bewahre. Ich rede eher von harmlosen, gar netten, wie die, die ich seit ein paar Jahren von Boris Jelzin habe: Dessen Namen kann ich nicht aussprechen, ohne daran zu denken, wie er damals sternhagelhaubitzenvoll bei einem Staatsbesuch urplötzlich die Militärkapelle dirigieren wollte, dem erstaunten Dirigenten den Taktstock entwendete und ihn so lange schwungvoll in der Gegend herumwirbelte, bis die Bodyguard-Mafiosi ihren Präsi wieder unter Kontrolle bringen konnten. Super war das. Jelzin scheint ohnehin ein Zwangsvorstellungs-Gesellenstück zu sein: Außer an die besoffene Dirigier-Aktion muss ich bei seinem Namen regelmäßig an seine heimliche Zwillingsschwester Dagmar Schipanski denken, was mich wiederum an Hildegard Hamm-Brücher erinnert, und dazu gesellt sich aus aktuellem Anlass jetzt auch noch Gesine Schwan. Erstaunlich, wie viele abgeschriebene PolitikerInnen in Zwangsvorstellungen einen Platz finden.

Eine Menge zwanghafter Bilder entstehen in meinem Kopf auch bei bestimmten Automarken. So imaginiere ich aus unerfindlichen Gründen jedem „Golf Genesis“ einen dieser vogelkackeähnlichen „Sylt“-Aufkleber auf die Heckscheibe. Ich will mich aber nicht beschweren, es gibt noch viel beklopptere Aufkleber, an die man zwangsweise denken könnte. „Bums mal wieder“ zum Beispiel oder „Abi 98“. Wobei der „Abi“-Aufkleber eigentlich schon wieder ganz gut sein könnte, wenn er zum Beispiel mit der Jahreszahl „53“ korrelierte. Aber damals hatte man wohl andere Sorgen. Und weniger Autos.

Fragen zum Zwang? kolumne@taz.de Morgen: Peter Unfried über CHARTS