Vertagung nach Prozessbeginn

Wegen der vier Anschläge vom November 2003 stehen seit gestern 69 Personen in Istanbul vor Gericht. Derzeit ist noch nicht geklärt, welche Institution zuständig ist

ISTANBUL taz ■ Das gestern in Istanbul begonnene Verfahren wegen der vier Anschläge im November vergangenen Jahres ist nach einem Tag wegen Formfragen bereits wieder vertagt worden. Bei den Attentaten waren zwei Synagogen, das britische Konsulat und die Zentrale der britischen Bank HSBC fast vollständig zerstört worden. Dabei wurden insgesamt 63 Menschen getötet, darunter der britische Konsul Roger Short.

Gestern wurden nun zunächst vor dem Staatssicherheitsgericht in Istanbul insgesamt 69 mutmaßliche Täter angeklagt. Alle Täter gehören zum islamistischen Umfeld. Alle sind sie türkische Staatsbürger, was unmittelbar nach den Anschlägen von der Regierung zunächst bestritten worden war. Den Drahtziehern der Attentate werden allerdings enge Kontakte zu al-Qaida nachgesagt. Der Hauptverdächtige, ein so genannter Afghane, also ein in Afghanistan ausgebildeter türkischer Dschihadist, ist weiterhin auf der Flucht. Wegen der Menge der Angeklagten sollte allein die Prozesseröffnung fünf Tage dauern. Die Angeklagten sollten den Richtern in alphabetischer Reihenfolge vorgeführt werden, gestern waren die ersten neun dran.

Bereits nach den ersten Stellungnahmen der Anklagten und deren Anwälte wurde klar, dass das Gericht mit einem zunächst unüberwindlichen Prozesshindernis konfrontiert ist. Vor zwei Wochen wurden im Rahmen einer Verfassungsreform die Staatssicherheitsgerichte abgeschafft. Staatspräsident Sezer hat die Verfassungsänderungen vergangene Woche unterschrieben. Da bislang nicht klar ist, wie die Staatssicherheitsgerichte ersetzt werden, die Anklage aber bei dem bis vor zwei Wochen zuständigen Staatssicherheitsgericht erhoben worden war, begann der Prozess vor dem existierenden Gericht, bis die Angeklagten die Zuständigkeit in Frage stellten. Nach kurzer Beratung schlossen sich die Richter dem an. Der Prozess muss nun ausgesetzt werden, bis die zukünftige Zuständigkeit geklärt ist.

Die Staatsanwälte hatten in den letzten Monaten eine umfangreiche Anklage zusammengestellt. Die Strafforderungen variieren zwischen fünf Jahre und der Höchststrafe, was in der Türkei nach Abschaffung der Todesstrafe jetzt „lebenslänglich“ ohne die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung bedeutet. Außer auf Indizien wie DNA-Analysen, mit denen die Beteiligung einzelner Angeklagter nachgewiesen werden soll, stützt sich die Anklage auch auf die Aussagen von Kronzeugen. Von den 69 Angeklagten haben sich insgesamt 20 in der Hoffnung auf einen Strafnachlass als Kronzeugen angeboten.

Die Identität der Selbstmordattentäter war durch DNA-Analysen ermittelt worden. Den Kern der Angeklagten bildet eine Gruppe aus dem kurdischen Südosten der Türkei, die alle aus Bingöl, einer Kleinstadt in der Nähe der kurdischen Metropole Diyarbakir, kommen. Treffpunkt der Gruppe war ein Internetcafé, das dem Vater eines der Selbstmordattentäter gehört. Polizei und Geheimdienst mussten sich schwere Vorwürfe machen lassen, als nur fünf Tage nach den Attentaten auf die beiden Synagogen Leute aus derselben Gruppe noch die Anschläge auf das Konsulat und die HSBC-Bank verüben konnten.

JÜRGEN GOTTSCHLICH