Die Grenzen aufbrechen

„Er war ein Phänomen“: Zum Abschluss der Hamburger Ballett-Tage erinnerte die Staatsoper mit der Nijinski-Gala an den vor zehn Jahren in Paris verstorbenen Tänzer und Choreografen Rudolf Nurejew

Sein Charisma schlug nicht allein Ballettfans in den Bann. Rudolf Nurejew war eine Ausnahmerscheinung unter den Künstlern des vergangenen Jahrhunderts. Den Stil des klassischen Tanzes hat er im Westen geprägt, vor allem aber die Rolle des männlichen Tänzers neu gestaltet. Die 29. Nijinsky-Gala, traditioneller Abschluss der Hamburger Ballett-Tage in der Staatsoper, erinnerte im zehnten Todesjahr an Werk und Wirken des russischen Tänzers und Choreografen. Gaststars vom Moskauer Bolschoi Ballett und vom Ballett der Pariser Oper, das Nurejew von 1983 bis zu seinem Tod geleitet hat, waren der Einladung des Hamburg-Balletts gefolgt.

„Er war ein Phänomen“, bekräftigte John Neumeier, Direktor und Chefchoreograf im Haus an der Dammtorstraße, „seine Ausstrahlung vermochte es, die Grenzen zwischen klassischem und modernem Tanz aufzubrechen.“ Für den Ballettchef sindKlassik und Moderne ebenso wenig strikt in Lager getrennt, wie die vergangene, erfolgreiche Spielzeit mit einer traditionellen La Bayadère und Neumeiers jüngster, moderner Choreografie Preludes CV wieder bewiesen hat.

Das Publikum liebt Neumeier für beides, und das seit 30 Jahren. Als er selbst an sein Wirken erinnerte, erhoben sich die Zuschauer zu Minuten langen Ovationen von den Sitzen. Und plötzlich stand plötzlich Kultursenatorin Dana Horáková im Vorhangspalt und überreichte dem Ballettintendanten die Medaille für Kunst und Wissenschaft des Senats, Hamburgs höchste kulturelle Auszeichnung.

Mit tänzerischen Höhepunkten war die Gala ebenso reich gesegnet. Vor allem die männlichen Starsolisten der Pariser Oper bewiesen, dass sie das Erbe Nurejews in dessen Sinne weiterführen. Manuel Legris und Laurent Hilaire begeisterten in Maurice Béjarts Lieder eines fahrenden Gesellen in ihrer harmonischen Balance aus Kraft, Eleganz und Sinnlichkeit. Dem innovativen Geist seines Idols wollte Neumeier in nichts nachstehen. Nurejew, den Neumeier persönlich kannte, habe ihn immer wieder bestärkt, zu choreografieren.

Das Ballett Don Juan, das Neumeier 1974 für Nurejew kreierte, wurde mit Alexandre Riabko in der Titelrolle und Joëlle Boulogne als Todesengel zu einem weiteren Höhepunkt. Doch Neumeier ging an diesem Abend noch einen Schritt weiter und ließ seine Tänzer erstmals auf offener Bühne improvisieren. Ein Abenteuer, das über einen gut gemeinten Versuch zwar noch nicht hinausreichte, doch einmal mehr das kreative Potenzial des Ensembles ausreizte. Die Klassik meisterten Elizabeth Loscavio und Otto Bubenícek in ihrem Debut von Le Corsaire dagegen sehr beachtlich. Und Marianna Rizkina gab an der Seite von Nikolaj Tsiskardidze eine wundervoll luzide Giselle.

Die kommende Jubiläumsspielzeit wartet mit zahlreichen Neueinstudierungen auf – und vielleicht mit der Eröffnung des anvisierten Ballettmuseums für Neumeiers umfangreiche Sammlung. MARGA WOLFF