Zwischen Hast und Stillstand

Moskau, einmal rundum erneuert: Das sehen die beiden Fotografen Igor Muchin und Wladimir Mischukow mit sehr unterschiedlichem Blick. Muchin hält es mit denen, die noch auf ihre Zukunft warten, bei Mischukow hat sie schon begonnen

Die Zeit totschlagen, auf der Suche nach dem Kick und nach Gemeinschaft

von MATTHIAS ECHTERHAGEN

„Turbokapitalistisch“ nannte man zur Erklärung gern die Zeit der Neunzigerjahre in Moskau, als westliche Marken und Zeichen den Beginn einer neuen Epoche ankündigten. In der Nähe des Roten Platzes gab es bald einen McDonald’s, die Pepsi-trinkenden Jugendlichen auf den Straßen trugen nur noch Levi’s, in den Hochglanzmagazinen und im Fernsehen tauchten plötzlich immer mehr dicke Limousinen vor neonbeleuchteten Clubs auf. Es war eine Zeit, in der laut und grell vom Aufbruch geträumt wurde, noch ehe die alte Welt verschwunden war.

Einer, der diese Zeit dokumentierte, ohne dabei „Turbokapitalismus“ zu sagen, war der Moskauer Fotograf Igor Muchin. Einige seiner Bilder hängen nun in Berlin: Im Rahmen einer Retrospektive russischer Fotografie stellt Muchin zusammen mit Wladimir Mischukowin in der Kulturbrauerei unter dem Titel „Moskauer Jugend im 3. Jahrtausend“ aus. Muchin wurde 1961 in Moskau geboren und arbeitete als Schlosser, bevor er zum Fotografieren kam. Während der Perestroika knüpfte er Kontakte zu Künstlern, die im Samisdat publizierten. Seine erste, 1987 in Moskau eröffnete Ausstellung machte ihn auch im Westen bekannt. Sie zeigte Moskauer Jugendliche, die einer ungewissen Zukunft entgegensehen. In den Neunzigerjahren machte Muchin mit „Untersuchungen über die sowjetische monumentale Kunst“, einem Bilderessay über das eigentümliche Nachleben sowjetischer Denkmäler in der Provinz, sowie mit einer Serie über die barocke Ausstrahlungskraft sowjetischer Parkbänke auf sich aufmerksam.

Mehrschichtig und beinahe elegisch sind die zwischen Hast und Stillstand inszenierten städtischen Momentaufnahmen Muchins, die in der Kulturbrauerei zu sehen sind. Ein mit „Twerskaja uliza. 9. Mai 1996“ beschriftetes Bild zeigt eine abblätternde Moskauer Häuserwand mit Schildern, die auf eine Apotheke, eine Geldwechselstube, ein skandinavisches Restaurant und auf die Möglichkeit hinweisen, sein Englisch aufzubessern. Die Leute vor diesen Schildern sind in Eile: Man sieht noch die Handtasche einer Frau rechts am Bildrand, links hinten steht ein Polizist vor einem wenig Vertrauen erweckenden Gullideckel und spricht in sein „Mobilnik“, im Zentrum des Bildes steht ein junger Mann, dessen Hand eine Faust formt und der konzentriert in die Ferne blickt.

Es ist dieser skeptische und zugleich sehnsuchtsvolle Blick, dem man oft bei jungen Menschen auf Muchins Bildern begegnet. Die beiden Frauen auf dem Freigelände einer Diskothek haben ihn ebenso wie die an einer Bushaltestelle wartende Schönheit, die niemand sich anzusprechen traut. Muchin zeigt Schulabgänger, Rocker und andere, die die Zeit totschlagen auf der Suche nach dem Kick und nach Gemeinschaft. Einige der fotografierten Paare aus der 1996 fertig gestellten Serie „Liebende“ scheinen für eine gewisse Zeit beides zu haben: den Kick, weil es sich gut anfühlt, die Nase in den Hals des Freundes zu vergraben, und die Gemeinschaft, denn schließlich ist man zwischen diesen Menschen nicht mehr allein und zeigt das nun auch.

Wladimir Mischukow ist acht Jahre jünger als Muchin. Fast möchte man glauben, dass ihm damit wohl die entscheidenden Jahre fehlen, um einen ähnlich nostalgischen Blick auszubilden wie Muchin, der als Kind der Perestroika an geschichtlicher Archivierung interessiert ist. Mischukows Bilder der Serie „Späte Stadt“ aus dem Jahr 2002 sind Oberflächenträume, inszenierte Schaufenstershots, die die kühle Neonwelt des nächtlichen Moskau zeigen. Mischukow nahm Bars und Wohnungen von außen auf. Das ergibt elegante Lichteffekte, kunstvolle Brechungen im Glas und kokettes Lächeln auf ertappten Gesichtern. Das Leben unter Klarsichtfolie: Auch so kann Moskau aussehen.

„Moskauer Jugend im 3. Jahrtausend“, Kulturbrauerei, Galerie am Kino, Mi–Fr 16–21 Uhr, Sa u. So 14–21 Uhr. Außerdem zeigt „Moskau in Berlin“: „Geschichte Moskaus – fotografiert“, Werke des Avantgarde-Fotografen Alexander Rodtschenko, Russisches Haus der Wissenschaft und Kultur, Di–Fr, 14–19 Uhr, Sa u. So 12–18 Uhr. Beide Ausstellungen bis 13. Juli