Hinterm Bahndamm

Dragan Velikićs Prosa gleitet bevorzugt auf Schienen ins Depot des Vergessens

Etwas muss passiert sein, als Dragan Velikić noch klein war. Vielleicht stand seine Wiege in Belgrad, wo er 1953 geboren wurde, am Bahndamm. Oder seine Schulfreunde in Pula an der Adriaküste, wo er aufwuchs, haben ihn auf die Geleise einer stillgelegten Nebenstrecke gebunden.

Irgendetwas, das im kleinen Dragan ein nachhaltiges Gefühl, ja beinahe eine Liebe für Schienenstränge aller Art ausgelöst hat. Züge, Bahndämme, Schrankenwärterhäuschen und Abteile treten gehäuft auf in Velikićs Essays und Romanen – doch ist er kein Eisenbahnromantiker, der seufzt, wenn eine Dampflok schnauft. Sein literarisches Programm kommt auf Schienen daher. Und stets geht es seiner Prosa um Erinnerung: „Auch das Reisen selbst ist ein Intervall, die Gedanken liegen unausgepackt in den Koffern des Gedächtnisses“, heißt es in seinem neuen Roman, den er am Freitag in Bremen vorstellt.

Adam Vasić, der Protagonist in Dossier Domaszewski, das gerade im Hamburger marebuch-Verlag erschien, ist auf einer Reise zurück. Zurück nach Pula, dem Ort der ersten Freundschaften, der ersten Küsse. „Der Zug war von jeher sein Beichtstuhl, eine Bühne aufgehobener Zeit, ein Katalog aus Möglichkeiten, eine ruhende Mitte.“ Weder die dreißigste Wiederkehr des Abiturs noch die Auflösung der Konten des gestorbenen Vaters würden alleine für die Rückkehr reichen.

Doch beides zusammen setzt eine grandiose Erinnerungsbewegung in Gang, die über die Familiengeschichte weiter zurück geht bis zur historischen Titelfigur: Viktor von Domaszewski, Stararchitekt der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hinterließ zahlreiche Spuren, bis er eines Tages spurlos verschwand. Im Gepäck die Vision eines gigantischen Hafens in Pula. Schicht um Schicht lässt Velikić Adam von Lebensgeschichten, Gebäuden, Landschaften und Gedanken abtragen. Detektivisch ist er einem geographisch-historischen Raum auf der Spur. Denn „sein Kataster war unzuverlässig geworden“, die im Wortsinne bewegte Geschichte Jugoslawiens – aber auch Adams eigene – muss nach den Umbrüchen der 1990er Jahre rekonstruiert werden.

Velikić gibt seiner Figur dafür statt des großen Besens einen feinhaarigen Pinsel an die Hand. So wie der Vater, der als Holzschnitzer aus einem klobigen Stück Baum immer feinere Details herausschälte, dringt Adam mit erstaunlicher politischer Präzision in die Depots des Vergessens ein. Tim Schomacker

Dragan Velikić: Dossier Domaszewski, mare, 192 Seiten, 18 Euro.Lesung: 4. 06., 20 Uhr,Thalia