: Glaubensmächte
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
… diese Linie beginnt mit dem Verlust einer geeinten Christenheit und setzt sich fort mit dem Verblassen eines christlichen Europas. Es treten in Europa Kräfte wider die Kirche und wider ihr Menschenbild auf: revolutionäre, nationale, totalitäre Kräfte. Selbstverständlich ist der Risorgimento nicht der Gulag, die Säkularisation kein KZ, der Kulturkampf kein Weltkrieg und eine Blasphemie keine Guillotine …, aber die Betreiber sind geistesverwandt. Sie alle sind der katholischen Kirche feindlich gesinnt, sie alle haben aufklärerische, progressistische, emanzipatorische Züge und verfolgen ihre Ziele mit unterschiedlicher Gewaltsamkeit. Auf Kosten der Menschen. Leserbrief von Michael Widmann, Augsburg; Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2003
Als Leserbriefleser rechne ich ein solches Stück zu den Köstlichkeiten, beinahe so lecker wie offener Antisemitismus (das jüdische Finanzkapital verschuldet die Globalisierungsbrutalitäten) oder Stalinismus (Peter Hacks: mit Walter Ulbrichts Sturz begann der Verfall der DDR). Herr Widmann schwelgt dann in Millionen ermordeter Kinder (Abtreibung) seit 1945 und freut sich auf die Hekatomben ermordeter Senioren, die anfallen, wenn Deutschland das holländische Modell der Sterbehilfe einführt; und weil immer noch was übrig bleibt, erklärt er flugs die Milliarden (?) Menschen, die irgendwie anders täglich auf der Welt umkommen, zu Opfern der allgemeinen Entchristlichung, will sagen: Das Elend der Welt fließt daraus, dass wir uns seit Jahrhunderten nicht mehr einmütig der katholischen Kirche unterwerfen und ihre Forderungen an unsere Lebensführung ignorieren.
Ist das nicht zauberhaft? So etwas findet man nur in Leserbriefen. Denn die Funktionäre der katholischen Kirche selbst äußern sich in der Öffentlichkeit ja weit diplomatischer. Nur hin und wieder darf sich ein Bischof seine Redezeit in den Talkshows durch besonders reaktionäre Verkündigungen sichern (das Dyba-Modell).
Herrn Widmanns Leserbrief lässt uns wirklich in ein anderes Gehirn blicken. Das Weltproblem Nr. 1 stellt der Ungehorsam dar, unser Ungehorsam gegen die katholische Kirche, diesen Hort des unbeschädigten Lebens, wo der Urmeter aller Moral und Ethik verwahrt wird. Dass das Leben in unseren Gegenden ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, wo die Emanzipation von der katholischen Kirche einsetzte, leichter wurde, sicherer, dass es anfing länger zu dauern – was den Einfluss der Kirche erst recht einschränkte, weil sie sich auf die Verwaltung des Todes und des Jenseits spezialisiert hatte –, solche Beobachtungen fehlen in diesem Gehirn. Ebenso das grauenhafte Blutvergießen, das die Kirche unter Abweichlern und Ungläubigen anzurichten pflegte; was ihr die Liaison mit diesem und jenem Staat sehr erleichterte, insofern sie dann dessen Gewaltmittel nutzen durfte. Der Gedanke liegt nahe, dass alle Techniken der Säuberung, deren sich die Diktaturen des 20. Jahrhunderts bedienten, in der römischen Kirche präfiguriert waren. Abweichler, Ketzer zu identifizieren und auszumerzen, darauf verwandte sie erhebliches Ingenium.
Ah, so darf man sich – dank Herrn Widmann und seinesgleichen – hin und wieder einen kleinen antiklerikalen Anfall gönnen.
Das Vergnügen lässt sich noch steigern durch die Apologetik, zu der Herr Widmann und seinesgleichen, wird ihre heilige Kirche dergestalt attackiert, sogleich übergehen. Das Zentralargument lautet wohl: Was sich an Irrtümern, ja Grausamkeiten in der Kirchengeschichte findet, geht gar nicht auf das Konto der heiligen Kirche, dieser metaphysischen Institution, die fehlbaren Menschen, die sie hienieden verkörpern, verantworten diese Kapitel. Dass sich dann drohend die Frage erhebt, wem man denn in einer gegebenen Gegenwart gehorchen soll, welche Vorschriften jetzt und hier gelten, welche sich Gott und welche sich fehlbaren Menschen verdanken und wie man das unterscheidet – nein, hier steige ich nicht ein. Das sollen diese Gehirne unter sich ausmachen.
Neulich war ich bei einer Dichterlesung. Der Autor war in New York und recherchierte ausgiebig unter den schon uralten Emigranten, die als Juden und Kommunisten aus Europa noch die rettenden USA erreicht hatten. Das war gewiss eine anrührende Arbeit, die einem rasch die Tränen in die Augen treibt.
Je länger der Autor aber über sein Buch sprach, um so unmerklicher und unabweisbarer verwandelten sich die entronnenen alten Leute – nein, nicht in Heilige. Sondern in diesseitige Verkörperungen einer anhaltend transzendenten Idee, des Sozialismus oder gar Kommunismus, für dessen fortwirkende Gültigkeit sie bürgten.
Wie man sich das genau vorzustellen hat, fragen wir besser nicht. Die alten Altlinken überlebten ja in New York, dem Babylon des Kapitals, und das nicht als Sozialisten, sondern als kleine Leute mit den entsprechenden Berufen. In die SU, später in die DDR, den ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat, zu gehen, verlockte sie anscheinend nichts, was ihnen im Hinblick auf Stalins SU vermutlich das Leben rettete.
Dass sie gleichwohl die fortwirkende Gültigkeit des Sozialismus verkörperten, muss man sich wohl nach dem apologetischen Schema erklären, das Herr Widmann und seinesgleichen für die römische Kirche parat haben. Was bislang in der SU, in der DDR, wo auch immer als Sozialismus praktiziert wurde, war gar keiner. Die fehlbaren Menschen versauten die Verwirklichung des herrlichen Ideals. Aber das darf uns keinesfalls dazu verführen, das Ideal selber für unrealisierbar zu halten und aufzugeben. Wer das tut – ja, von dem würden Herr Widmann und seinesgleichen sagen, er sei von Gott und seiner Kirche abgefallen.
Der Autor jener Lesung wurde im Weiterreden immer inniger. Seine Augen nahmen das Leuchten an, das man wenig zuvor bei den Teilnehmern des Kirchentages beobachten konnte. Und später beim Sonderparteitag der PDS, vor allem bei älteren Mitgliedern, in der Regel gut erhaltene und gut aussehende Greise, als handle es sich beim sozialistischen Ideal um eine besonders gesunde Diät und Lebensweise.
So erklärten sich diese Kader ja den Untergang der DDR: Die sozialistische Wirklichkeit widersprach gründlich dem sozialistischen Ideal und kann deshalb wegfallen. Aber das Ideal lebt unverändert fort – und will nicht die Jugend, in der Gestalt von Attac, dessen Sonne eben am Horizont der Geschichte aufgeht, ihm neuen Glanz verleihen? Ei, da verdoppelt sie ihr Leuchten, die schöne Greisin aus Crimmitschau.
Und? Ist das alles schlimm? Und wir haben es bis morgen abzuschaffen?
Aber nein, alles in bester Ordnung. Herr Widmann darf seinen Kirchengehorsam in der SZ verkündigen (die inexistent wäre, besäße die Kirche die Macht, die er ihr wünscht), und die PDS erspart alten Leuten schwere politische Lebensenttäuschungen. Ihre Ideale verwandelten sich – wie vorher die Lehren der Kirche – in private Glaubensmächte, wie sie jeder für sich nach Belieben hegt und pflegt. Das Ideal hörte auf, unbedingt auf seine Verwirklichung zu dringen, wobei der Sozialismus ebenso viel Unheil anrichtete wie zuvor die Kirche, als sie die Lebenswirklichkeit zu beherrschen suchte.
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