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„Die Fragen schärfen mein Gedächtnis“

Im Jüdischen Museum sind jetzt mehr als 1.000 Interviews mit Holocaust-Überlebenden zugänglich. Jiri Kosta, 83, ist es gewohnt, über seine Erfahrungen zu sprechen, seit sein Enkel Dominik Palek, 20, ihn in den Geschichtsunterricht mitgenommen hat. Ein Generationengespräch

INTERVIEW WIBKE BERGEMANN

taz: Herr Kosta, Sie haben als junger Mann mehrere Konzentrationslager überlebt. Wann haben Sie sich entschieden, auch öffentlich über ihre Holocaust-Erfahrungen zu sprechen?

Jiri Kosta: Das hat Jahrzehnte gedauert. Einige meiner Schicksalsgenossen können bis heute nicht darüber reden. Aber die meisten sind der Meinung, wir müssen das erzählen, weil wir die letzten lebenden Zeitzeugen sind.

Spielten auch bei Ihnen solche Hemmungen eine Rolle?

Kosta: Ja, sicherlich. Aber nach 1945 hatten wir ganz andere Sorgen. Ich musste mich physisch und psychisch wieder aufrichten, das hat zwei, drei Jahre gedauert. Erst sah es so aus, als könnte ich in der Tschechoslowakei eine neue Karriere als Ökonom beginnen. Dann kam die große Enttäuschung, Ende 1949. Plötzlich änderte die Kommunistische Partei ihre Beurteilung der Funktionäre, die wie ich einen bürgerlichen Hintergrund hatten. Da war auch wieder ein Stück Antisemitismus dabei: Juden seien unverlässlich und nicht im Volk verwurzelt. Meine Eltern wurden verhaftet, ich musste in eine Fabrik. Ich litt unter dieser zweiten Verfolgung, weil ich vorher so große Erwartungen hatte. Was wir in dieser Zeit erlebt haben, war so erschütternd für mich, dass alles, was vorher geschehen war, unwichtig wurde.

Wie sind Sie 1970 ausgerechnet in die Bundesrepublik Deutschland gekommen?

Kosta: Ich habe mich gefragt, ob ich überhaupt Fuß fassen kann in diesem Land. Eine wichtige Rolle spielte für mich die politische Veränderung 1968/69, als Willy Brandt erst Außenminister und dann Bundeskanzler wurde. Brandt war für mich ein Mann des Widerstands, das war ein Symbol. Die Generation der Täter schien überwunden.

Seit den 90er-Jahren sprechen Sie regelmäßig vor Schülern und anderen Gruppen über ihre Erfahrungen.

Kosta: Damals kam mein Enkel Dominik und sagte: „Opa, bei uns im Geschichtsunterricht sprechen wir gerade über das Thema Nationalsozialismus.“

Dominik Palek: Unser Lehrer hat uns gefragt, ob wir einen Zeitzeugen kennen. Opa hatte mir schon vorher erzählt, was ihm passiert war. Aber nicht in allen Details. Ich war sehr froh, dass er diese Dinge schon genügend verarbeitet hatte und darüber sprechen konnte.

Sie hatten Ihren Großvater auch schon vorher befragt?

Palek: Ja, aber die ganzen Grausamkeiten hat er dann erst in der Schule so ausführlich erzählt.

Haben Sie als Kind die tätowierte Häftlingsnummer am Arm ihres Großvaters gesehen?

Palek: Ja, aber ich war noch ganz jung und habe meine Mutter gefragt, was das für eine Tätowierung ist. Mein Opa hat sie auch in der Klasse gezeigt. Das fanden viele sehr krass, dass ein Mensch auf eine Nummer reduziert wird. Man liest so was in Geschichtsbüchern, aber man kann es sich nicht vorstellen. Es ist viel wertvoller, wenn ein Zeitzeuge aus seiner Erinnerung berichtet. Menschen erzählen vor allem ihre persönliche Sicht, und das kann kein Geschichtsbuch der Welt beschreiben.

Herr Kosta, fällt es Ihnen manchmal schwer, über diese Erinnerungen zu sprechen?

Kosta: Ich habe ein bisschen Lampenfieber, wie vor jedem öffentlichen Auftritt. Aber ich habe immer nach den ersten Sätzen das Gefühl, dass das ankommt. Die Leute wollen das wissen, sie fragen nach. Besonders in den Schulen mache ich gute Erfahrungen. Ich fühle mich dabei erleichtert, und ich gebe die Botschaft weiter, um die es mir geht. Ich bin froh, wenn die Leute mich fordern.

Sind Ihnen manche Fragen nicht unangenehm?

Kosta: Nein. Die Fragen schärfen mein Gedächtnis für Sachen, die ich vergessen habe. Aber nicht, weil ich sie verdrängt habe, das ist ja alles wahnsinnig lange her. Und dann gibt es natürlich auch Fragen, die ich nicht beantworten kann: Etwa wenn Schüler wissen wollen, ob die Amerikaner nicht Auschwitz schon früher hätten befreien können.

Welche Erlebnisse erzählen Sie nicht?

Kosta: Eigentlich sehe ich keine Grenzen. In meinem Buch schildere ich ja auch Situationen, in denen ich vielleicht etwas feige erscheine. Etwa während einer Selektion, als wir alle nackt antreten mussten. Der SS-Offizier hat gesehen, dass ich nicht beschnitten bin. Und da habe ich behauptet, Mischling zu sein und meine Herkunft verleugnet. Es gibt sicher Juden, vor allem gläubige, die mir das nie verzeihen. Ich denke bis heute, dass das keine Sünde war.

Herr Palek, gibt es etwas, das Sie ihren Großvater nicht fragen würden?

Palek: Ja, beispielsweise, ob ihm damals auch die Haare geschoren wurden. Welche Demütigungen er im Detail erleben musste. So was würde ich ihn nie fragen, weil das viel zu schmerzhaft ist. Das würde ich auch andere nicht fragen. Ich würde es den Leuten überlassen, ob sie mir so etwas erzählen wollen.

Herr Kosta, wie haben Sie auf die Interview-Anfrage der Shoah Foundation reagiert?

Kosta: Mir gefiel die Idee. Ich dachte, dass ich auf diese Weise ein breiteres Publikum ansprechen kann, wenn auch nicht so hautnah.

War das Interview anders als die Gespräche mit Schülern?

Kosta: Mir fehlte der Kontakt. Die Schüler fragen mich sehr detailliert. Etwa, wie ich mich während des Todesmarsches verstecken konnte. Das sind Kleinigkeiten, die wichtig sind im Leben. Die Interviewerin wollte wissen, welche Rolle der Ältestenrat in Theresienstadt spielte, ob er kollaboriert hat. Ich kann aber darüber nichts sagen, ich hatte keinen Kontakt zu diesen Leuten.

Kann man sich mit einem einzelnen Interviewer nicht besser entspannen als vor großem Publikum?

Kosta: Das ist von Mensch zu Mensch verschieden. Ich bin ein Lehrertyp, ich brauche Zwischenfragen, ich muss spüren, dass meine Zuhörer mitgehen. Andere haben natürlich Hemmungen vor einem großen Publikum.

Wenn man Interviews der Shoah-Foundation anschaut, fällt auf, dass die Befragten sehr viel Alltägliches berichten, wenn sie über den Holocaust sprechen.

Kosta: In solchen Situationen denkt man nur an den nächsten Augenblick, wie man das Allernächste überstehen wird. Wie man aus dem Graben zurück in die Baracke kommt. Ob man nachts fünf Stunden schlafen kann. Nur so konnte man das schaffen, von Minute zu Minute. Man kann sich nicht die ganze Zeit bewusst machen, dass das Leben an einem seidenen Faden hängt. Sonst wäre man verrückt geworden.

Auch in Ihrer Autobiografie „Nie aufgeben“ schildern Sie Ihre Erlebnisse auf sehr sachliche Weise.

Kosta: Ich glaube, die Mehrzahl der Überlebenden spricht heute so über diese Zeit. Die meisten haben das verarbeitet. Ich habe auch in mein Buch nichts hineingenommen, um die Geschichte dramatischer zu machen.

Palek: Vielleicht erzählen die Zeitzeugen etwas gefühllos, um das Erlebte nicht zu stark an sich heranzulassen. In der Schule haben wir damals mit meinem Opa ein Video über die Konzentrationslager angeguckt. Der Film war wirklich schlimm. Mein Opa war zu Tränen gerührt und konnte seine Emotionen nicht mehr verbergen. Das war für mich ein sehr prägendes Erlebnis, dass ihn das so berührt hat.

Kann man die Erfahrungen überhaupt anderen Generationen vermitteln?

Kosta: Ich weiß nicht, ich versuche es. Die Schüler wollen alles ganz genau wissen: Warum sind Sie nicht geflüchtet? Warum gab es keinen Aufstand im Lager? Ich versuche ihnen zu erklären, dass man nie wusste, was passiert. Die Leute, die aus Theresienstadt deportiert wurden, kamen zwar niemals zurück. Aber Gaskammern? Das konnte sich kleiner vorstellen.

Palek: Die ganzen Gräueltaten sind heute nicht mehr vorstellbar. Man kann sie in Büchern nachlesen, aber man kann es sich nicht vorstellen.

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