Der Blick als Special Effect

Wie man die Reflexion übers Filmemachen radikal auf die Spitze treibt: Das Arsenal eröffnet heute Abend eine große Retrospektive des kanadischen Regisseurs, Fotografen und Malers Michael Snow

VON SANDRA LÖHR

Film gleich Kino. Was für die meisten Zuschauer in den 60er-Jahren keine Frage war, sahen damals einige Künstler und Filmemacher ganz anders. Es entstanden plötzlich Filme, die nicht nur Geschichten erzählten, sondern vielmehr mit dem Medium Film spielten, es hinterfragten und seine Ausdrucksmöglichkeiten erweiterten. Die ganze Bewegung bekam den damals modisch angesagten Begriff „struktureller Film“ übergestülpt – obwohl die Filme eigentlich weniger mit Struktur zu tun hatten, als vielmehr ganz profan die Befreiung der Bilder aus dem Kontext der Kinomaschine feierten. Aber was erzählen diese Filme dann eigentlich? Und erzählen sie überhaupt noch?

Michael Snow, einer der wichtigsten Vertreter dieser Bewegung, dem das Kino Arsenal ab heute eine Retrospektive widmet, hat einen einfachen Rat für seine Zuschauer: „Bleiben Sie, schauen Sie aufs Bild, aber denken Sie an etwas anderes. Später werden Sie vielleicht herausfinden, dass Sie wieder zu den Bildern zurückgekehrt sind.“

Zu den Bildern zurückkehren, das ist es, was der Filmemacher, der auch als Fotograf, Maler, Bildhauer und Musiker arbeitet, will. Michael Snow wurde 1929 in Toronto geboren, und seine Arbeiten werden nicht nur bei internationalen Filmfestivals gezeigt, sondern finden sich mittlerweile auch in der National Gallery of Canada, dem Museum of Modern Art in New York und dem Centre Pompidou in Paris. Und ähnlich wie der Videokünstler Nam June Paik will Snow das Medium Film nicht nur den Geschichtenerzählern des narrativen Kinos überlassen, sondern verweigert sich in seinen Arbeiten der Erwartungshaltung, dass der Sinn von bewegten Bildern jedes Mal eine Geschichte ergeben muss.

„Die Bewegung der Kamera ist bisher ausschließlich von der Handlung bzw. den Charakteren diktiert worden, wenn z. B. jemand den Raum verlässt, folgt die Kamera. Ich möchte dagegen der Kamera im Film die gleiche Rolle geben wie dem gefilmten Objekt“, erklärt Snow seine Arbeitsweise. Sein Interesse am Film ging aus seiner Arbeit als Fotograf und Maler abstrakter Bilder hervor, in denen er sich mit Formen und Zeichen beschäftigte, und so löst Snow in seinen Arbeiten die Illusionsmaschine Kino in seine Einzelteile auf und stellt damit die menschliche Wahrnehmung in Frage.

Sein wohl berühmtester Film „Wavelength“ von 1967 besteht beispielsweise aus einer einzigen, 45 Minuten langen Kamerafahrt durch ein New Yorker Loft und einem Zoom auf ein Foto, das Meereswellen zeigt. Während des Zooms stürzt in dem Raum ein Mann tot zu Boden, ein Regal wird hereingestellt und ein Radio angeschaltet. Dieser Film sorgte Ende der Sechzigerjahre für Snows internationalen Durchbruch, weil hier eine Emanzipation des Kamerablicks gelingt, der nicht nur in der Wiedergabe menschenmöglicher Perspektiven gefangen bleibt.

In „Corpus Collusum“ von 2002 geht er noch weiter. Dort sitzt eine nordamerikanische Durchschnittsfamilie vor dem Fernseher: Mutter, Vater, Kind, in die Betrachtung der flimmernden Bilder vertieft. Manchmal steht die Frau auf und stellt sich hinter das Sofa, mal ist sie nackt, dann wölbt sich ihr Bauch, dann verschwindet sie, und manchmal steht der Mann an ihrer Stelle, während das Kind weiter fernsieht. Doch plötzlich verändern sich die Proportionen der Darsteller. Sie blähen sich abwechselnd auf und werden zu einem Klumpen gelben Lichts. Aber anders als etwa in Fantasy-Filmen, wo die Geschichte verlangt, dass ein Special Effect das Bild von einem Menschen in das eines Tieres, einer Wolke oder eines Fantasiewesens verwandelt, lenkt Snow hier die Aufmerksamkeit auf den Special Effect selbst und damit auf die Frage, wie wir wahrnehmen, was sich vor unserem Auge abspielt.

In „So Is This“ von 1982 treibt Snow diese Form der Reflexion über das Filmemachen auf die Spitze. Besteht der Herstellungsprozess eines jeden Films normalerweise aus Schrift – ob in schriftlicher Form wie einem Drehbuch oder den gesprochenen Anweisungen des Regisseurs an seine Darsteller –, aus denen dann Bilder werden, die von einem Zuschauer wieder in einen sinnhaften Zusammenhang „übersetzt“ werden, dreht Snow diesen Herstellungsprozess einfach um. So besteht „So Is This“ in jeder Einstellung aus einem einzigen Wort. Auf der Leinwand fügen sich diese zu den Anfangssätzen zusammen: „This is the title of this film. The rest of this film will look just like this“. 48 Minuten lang spielt der Film äußerst fantasievoll mit den Möglichkeiten von Schrift im Medium Film und der Erwartungshaltung der Zuschauer und zeigt dabei ganz nebenbei, dass Film eben nicht nur Kino ist.

Retrospektive Michael Snow, 3.–30. Juni im Arsenal, Potsdamer Platz. Heute Abend 21 Uhr Eröffnung mit Snows jüngster Arbeit „Triage“ (2004). Programm: www.fdk-berlin.de