siamesische zwillinge
: Freiheitswille bis zum Tod

Das Risiko, dass die iranischen Schwestern Ladan und Laleh Bijani sterben, betrug 50 Prozent. Es war hoch. Das wussten alle. Die Ärzte, die eine Operation abgelehnt hatten. Die Ärzte, die schließlich einwilligten. Und die Schwestern selbst. Ihr Wunsch, unabhängig voneinander zu leben, war größer als die Angst vor dem Tod. War es unverantwortlich von den Ärzten, die Operation durchzuführen?

Kommentar von HEIDE OESTREICH

Ein eigentümliches Licht fällt auf die Geschichte der Schwestern Bijani, wenn man ihren Hintergrund betrachtet: Sie wollten sich ihrer Naturwüchsigkeit nicht weiter ausliefern. Zwei Individuen mit eigenen Zukunftsplänen steckten in einem Joch, das jeweils eine zum Aufgeben ihrer Pläne und ihrer Individualität zwang.

Sie spiegelten auf eigentümliche Art die Situation der Frauen im Gottesstaat Iran. Dem Land, in dem Frauen nicht bestimmen können, was sie anziehen, in dem nur ein Bruchteil der Frauen einem Beruf nachgehen dürfen, nur ein geringes Berufsspektrum ihnen offen steht. In dem sie sich der gesellschaftlichen Ächtung aussetzen, wenn sie sich scheiden lassen. Bis Februar dieses Jahres liefen Frauen, die Sex mit einem anderen Mann als ihrem Ehemann hatten, Gefahr, gesteinigt zu werden. Wer die Situation nicht aushält, bringt sich um, Selbstverbrennung ist eine der Methoden. Die Entscheidung Freiheit oder Tod liegt in Iran näher, als wir uns überhaupt vorstellen können.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Entscheidung der Schwestern eine weitere Dimension. Freiheit ist ein außerordentlich seltenes Gut in diesem Land. Laleh und Ladan Bijani haben es kennen gelernt. Sie konnten studieren, sie konnten Berufe wählen, sie waren privilegiert – doch unter einem Joch. Laleh wollte Journalistin werden, Ladan Anwältin. Nach dem Jurastudium wollte Laleh in Teheran bleiben, Ladan dagegen in ihre Heimatstadt zurückkehren. Sie waren bereit, den gesellschaftlichen Zwängen zu trotzen, ihre körperlichen hielten sie bis jetzt zurück. Gestern haben die Ärzte den Freiheitswillen der Schwestern anerkannt und den Tod mit ihnen in Kauf genommen. Nach sorgfältiger Abwägung. Das ist nicht Mutwille, es ist Mut.

Tragik gewinnt der Fall nicht nur aus sich selbst. Tragik gewinnt er auch, weil er eine unfreiwillige Parabel der Lage der Frauen im Iran darstellt, die Individualität nicht leben können und stattdessen lieber sterben. Ohne Weltöffentlichkeit, ohne Ärzte, ohne Ethikkommission.

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