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Der Brotbaum der Armen

Das Tessin beherbergt einen einmaligen kulturhistorischen Schatz: 190 monumentale, mehrere hundert Jahre alte Esskastanien. Die Riesenbäume stammen aus einer Zeit, als der subalpine Raum im Tessin erstmals dauerhaft besiedelt wurde

VON URS FITZE

„Ee Bös“ (hohl) nennen die Einwohner Riveras am Monte Ceneri im Schweizer Kanton Tessin in ihrem Dialekt den riesigen, ausgehöhlten Kastanienbaum am Dorfrand. Die altersschwache Esskastanie hatte gekappt werden müssen, um nicht angrenzende Gebäude zu gefährden. Doch auf fünf Meter Höhe schlagen schon wieder zahlreiche Jungtriebe aus.

„Er zeigt viel Vitalität für sein Alter von mindestens 600 Jahren“, schmunzelt Patrik Krebs. Der Geograf vom Forschungsinstitut für Wald, Schnee und Landschaft in Bellinzona hat in Teilen des Kantons Tessin und im bündnerischen Misox über 190 dieser uralten Kastanienbaumriesen gefunden, vermessen, fotografiert und in einer Datenbank erfasst.

Krebs rechnet damit, dass sich die Zahl noch erhöhen könnte, wenn einmal das ganze Kantonsgebiet sowie die weiteren Kastaniengebiete im Kanton Graubünden erfasst sind. Der Wissenschaftler möchte die Baumriesen nicht nur registrieren, sondern auch mehr über die Umstände herausfinden, wann und unter welchen Umständen sie gepflanzt worden sind.

In die Liste kommen nur Kastanien mit einem Mindestumfang von 7 Metern auf Brusthöhe. Dafür brauche ein Baum auch an der besten Lage mindestens 400 Jahre. Der älteste in seiner Datenbank mit einem Umfang von 11,45 Metern steht in Chironico. Er könnte sogar über 1.000 Jahre alt sein und wäre damit einer der ältesten Kastanienbäume in Europa.

Die einheimische Flora gewinnt die Oberhand

Genaue Daten hat Krebs bei einer Kastanie vom Monti di Daro oberhalb von Bellinzona. Die Jahrring-Zählung einer Schnittprobe ergab ein Alter von 500 Jahren. „Damit kommen wir in die Epoche, als diese Alpen auf 700 bis 900 Metern intensiver und dauerhaft besiedelt wurden.“ Die meisten Kastanienriesen haben sich auf den Maiensässen erhalten. Heute sind die ehemaligen Alphütten zu beschaulichen Bauernhäusern umfunktioniert, und da und dort ist eine ehemalige Viehweide zum englischen Rasen geworden.

Bis in die 50er Jahre-lebten die Menschen hier weitgehend von dem, was die Böden hergaben. Die Kastanien waren die Brotbäume, deren Früchte über den ganzen Jahresverlauf das wichtigste Grundnahrungsmittel waren – und das seit dem späten Mittelalter, als die Esskastanien gepflanzt wurden.

Ihr Gesundheitszustand ist schlecht. Dies gilt für die meisten von Krebs untersuchten Kastanien. Der Wissenschaftler führt dies auf die vor Jahrzehnten aufgegebene Bewirtschaftung zurück. Generationen von Bauern haben sie während Jahrhunderten als ihre Brotbäume mit Sorgfalt behandelt. „Ohne diese intensive Pflege wären die Bäume mit Sicherheit nicht so alt geworden“, erklärt Patrik Krebs.

Was passiert, wenn diese Pflege eingestellt wird, lässt sich bei jeder Wanderung durch einen Tessiner „Kastanienwald“ beobachten. Aus den einstigen Selven, einer obstgartenähnlichen Landschaft mit viel Weideflächen zwischen den Einzelbäumen, ist ein dichter Wald geworden, aus dem die Kastanien allmählich verdrängt werden von einheimischen Arten. Die Natur holt sich zurück, was der Mensch ihr vor Jahrhunderten abgerungen hat. Denn die Kastanie ist kein natürlicher Tessiner Baum. Sie war wahrscheinlich von den Römern eingeführt worden. Ihr guter Nährwert machte die Kastanie vor allem seit dem Mittelalter, als es in Folge eines rasanten Bevölkerungswachstums immer mehr Mäuler zu stopfen gab, attraktiv für die landwirtschaftliche Nutzung.

Mehr und mehr gingen die Bauern aus den Tälern auf die Flanken der Hänge, wo sie in Höhenlagen von 700 bis 900 Metern auf den von den Gletschern geformten Terrassen gute Geländebedingungen vorfanden.

Ein Symbol der Armut verschwindet langsam

Die beeindruckendsten Zeugen dieser Epoche sind heute wie die meisten Kastanienriesen dem Verfall preisgegeben. Patrik Krebs möchte mit seiner Arbeit dazu beitragen, dass sie als kulturelles Erbe erkannt und bewahrt werden. Denn es sei kein Zufall, dass die Baumriesen über so lange Zeiträume überlebt haben. Die meisten sind in der Nähe von bewohnten Gebäuden gepflanzt worden, möglicherweise zum selben Zeitpunkt wie das Wohnhaus selbst. Ihre Funktion ist aber noch weitgehend unklar. Sie könnten wegen ihrer besonders guten Eigenschaften als lebende Genbank gedient haben.

Zumindest in einigen Fällen ist auch belegt, dass große Kastanienbäume als lebende Grenzmarker benutzt wurden. Fast ausschließen kann Patrik Krebs einen rituellen oder religiösen Hintergrund. „Die Kastanie war immer der Brotbaum der Armen.“ Vielleicht deshalb haben viele Tessiner ein ambivalentes Verhältnis zur Kastanie. Sie ist ein Zeugnis aus einer Zeit, als Armut und bittere Not noch bis weit ins 20. Jahrhundert tausende zur Auswanderung zwangen. Jetzt, wo der einstige Brotbaum allmählich verschwindet, weinen ihm viele keine Tränen nach.

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