Fluchtpunkt Undergroundpoet

„Ich habe noch nie gefickt!“ Mit dem Stationendrama „Elling“ des Dramatikers Axel Hellstenius schickt Stefan Neugebauer zwei Neurotiker auf ihren Weg. Er führt das Publikum durch die Räume des Stadtbads Steglitz

„Du bist verliebt! Was! Was?!!“ eifersüchtig schreit Elling seinen Leidensgenossen Kjell Bjarne an. Dieser hat eine Frau kennengelernt – und ist damit seinem Ziel näher gekommen. Nämlich seine längst überfällige Jungfräulichkeit zu beenden: „Ich habe noch nie gefickt!“ Es kommt zu Handgreiflichkeiten, am Ende liegt Elling zerstört am Boden. Und doch wird auch er seinen individuellen Zugang zum Leben finden: „Ich werde der Untergrundpoet Elling sein. Das Muttersöhnchen in neuer, gefährlicherer Ausgabe!“

Mit „Elling“ inszeniert Regisseur Stefan Neugebauer die Persönlichkeitsentwicklung zweier Freunde, die gerade aus der Psychiatrie entlassen wurden. Der dünne, hochgradig intelligente und überspannte Titelheld, der durch 36 Jahre „intensiver Zweisamkeit“ mit seiner Mutter zum Sozialphobiker wurde. Und der leicht zurückgebliebene Kjell Bjarne mit seinem Frauenproblem. Zwei Neurotiker, die den Alltag in ihrer gemeinsamen Wohnung kaum meistern. Immer wieder resümiert Elling an das Publikum gewandt: „Sogar, wenn keine Gefahr droht, bin ich vor Angst wie gelähmt.“ Selbst Telefonanrufe kann er nicht entgegennehmen.

Als „Stationendrama“ bezeichnet Neugebauer das Stück des Dramatikers Axel Hellstenius. Dieser schrieb „Elling“ auf Grundlage des norwegischen Erfolgsroman „Blutsbrüder“ von Ingvar Ambjørnsen. Laut Regieanweisung von Petter Næss, der „Elling“ 1999 in Oslo erstmalig inszenierte und auch Regie beim gleichnamigen Oscar-nominierten Kinofilm führte, verwandelt sich die Bühne in verschiedene Spielorte. Bei Neugebauer wandern die Zuschauer den Szenen einfach hinterher. Durch die Räume des Stadtbads Steglitz.

Das unter Denkmalschutz stehende Jugendstilbad stellte 2002 den Schwimmbetrieb ein und hat sich seit nunmehr fünf Jahren unter der Leitung von Gabriele Berger zum Kulturstandort etabliert. Neugebauer residiert hier mit seinem Clubtheater. Sein Konzept ist es, Theater an unkonventionellen Orten zu spielen, etwa im Anatomie-Hörsaal der Charité. In „Elling“ werden die Zuschauer zudem zu Statisten. Dann, wenn er und Kjell Bjarne sich das erste Mal trauen, alleine in ein Lokal zu gehen – selbstverständlich in das Café Freistil im Stadtbad, in dem die Zuschauer zuvor bei einem Glas Wein Platz genommen haben.

Die insgesamt vier Ortswechsel bereichern die Inszenierung, sicher. Mitunter verhindern sie aber konzentrierten Theatergenuss. Es geht unruhig zu. So muss der Zuschauer, kaum dass er sich in die zugig-kalte Wäscherei des Bades (Psychiatrie) gesetzt hat, gleich darauf in die ehemalige Näherei (Sozialwohnung) in der ersten Etage wechseln und vice versa. Dabei lohnt ein konzentrierter Blick – auf die schauspielerischen Qualitäten der Darsteller. In einem Stationendrama interessiert weniger der Handlungsverlauf als die Wandlung der Protagonisten – und diese muss vermittelt werden. Vor allem dann, wenn es sich um den Stabilisierungsprozess labiler Persönlichkeiten handelt. In „Elling“ gelingt dies.

Nervös verkrampfen sich die Hände von Hauptdarsteller Michael Schäfer, hastig ist seine Sprache. Und doch gelangt Elling schrittweise zu mehr Selbstbewusstsein, Gestik und Mimik entspannen sich. Und Kjell Bjarne? Die Augen weit aufgerissen, der Blick leer, füllt Michael Hecht die Rolle des überforderten Neurotikers voll aus. Kjell Bjarne plappert Elling gutmütig nach – und doch ist er sozial intelligenter. Geht er doch eine Beziehung mit seiner hochschwangeren Nachbarin ein. Erstmalig übernimmt er Verantwortung für andere.

Der Zuschauer spürt: Kjell Bjarne tritt aus seiner psychischen Weggetretenheit heraus und gewinnt an Präsenz. Ellings Triumph hingegen ist die Poesie. Sein einziges Gedicht, geschrieben in sozialer Isolation, wird durch Zufall in der Zeitung veröffentlicht. Noch längst ist Elling nicht geheilt. Aber er ist jetzt am Ziel – er ist ein Untergrundpoet.

SASKIA VOGEL

„Elling“ ab morgen wieder, 22. Januar, dann 23. Januar bis 28. Februar, Stadtbad Steglitz