In den Sümpfen fing es an

Kino aus dem Untergrund: Der Filmemacher Jewgeni Jufit ist Mitbegründer des Nekrorealismus, einer Reaktion voller Verve und morbider Wut auf die rigiden Gesetze des sozialistischen Realismus

von CLAUS LÖSER

Bevor der 300. Geburtstag St. Petersburgs mit viel Prunk, Pomp und Prominenz begangen wurde, hatten die Stadtväter auf dem Weg vom Flughafen zum Stadtzentrum eine mehrere hundert Meter lange Sichtblende errichtet. Hinter diesen Palisaden schirmte man von den Blicken der Staatsgäste jene Quartiere ab, für die zum Fest keine Farbe mehr übrig geblieben war und die nun weiter vor sich hin bröckelten. Eine in ihrer Plumpheit fast schon wieder anrührende Maßnahme, die sich in eine lange Geschichte des Kaschierens einreiht. Schon die Gründung der Ostseemetropole durch Peter den Großen ging mit einem Konsens des Stillschweigen einher. Wie viele zaristische Zwangsarbeiter bei der Trockenlegung der zu bebauenden Fläche jämmerlich eingegangen sind, wird auch heute in keiner Festschrift erwähnt. Einheimische, von einem inbrünstigen Hass-Liebe-Verhältnis zu ihrer Heimatstadt beseelt, verweisen immer wieder auf den dunklen Untergrund der Jubilarin: Die Schönheit von St. Petersburg thront auf Sumpf und Knochen; daher auch der Hang vieler ihrer Bewohner zum Morbiden.

Wohl nur hier konnte Anfang der 80er-Jahre eine künstlerische Bewegung von sich reden machen, die den Tod programmatisch im Titel trägt: Nekrorealismus. Mit gnadenloser Verve zerrten die Nekrorealisten die vergessenen Kadaver aus den Kellergeschossen und postierten sie im Zentrum ihrer künstlerischen Aktionen. Strangulationsopfer und Wasserleichen aus dem anatomischen Atlas dienten als Modelle für Gemälde, die das hohle Pathos des sozialistischen Realismus persiflierten. Lange bevor sich die Parodie des sozialistischen Realismus zum florierenden Zweig des Kunstmarkts entwickelte, hatten diese russischen Künstler die propagandistische Bildsprache unterwandert.

Seine ausgeprägteste Form findet der Nekrorealismus neben Malerei und Musik im Film. Programmatisch wiederum die Künstlernamen, die sich die unabhängig von offiziellen Strukturen auf 16 Millimeter und Super-8 arbeitenden Filmemacher zulegten: Bezrukow („der Armlose“), Mertvy („der Tote“) oder Debil. Neben Jewgeni „Debil“ Kontradijew und Alexander Anikeenko zählt der 1961 geborene Jewgeni Jufit zu den bedeutendsten Regisseuren dieser Gruppe und ist zugleich ihr theoretischer Kopf.

Parallel zu einem Ingenieursstudium beginnt er Anfang der 80er-Jahre, sich als Punkmusiker hervorzutun, macht Fotografien und Filme. 1985 gründet er „Mschalafilm“, das erste autonom arbeitende Filmstudio innerhalb der Sowjetunion. Sein im gleichen Jahr gedrehter Kurzfilm „Holzfäller“ muss als Ikone der filmischen Subkultur eingestuft werden. In dieser Arbeit fokussiert die statische Kamera ein paar Quadratmeter Winterwald, die von wechselnden Menschenfluten frequentiert werden. Männer fallen übereinander her, ignorieren oder verbünden sich. Stets entlädt sich die kollektive Gewalt am schwächsten Glied der Gemeinschaft.

Es gibt nur wenige Filme des Ostens, die den als Utopie drapierten Kollektivismus in vergleichbarer Form zuspitzen und als Lüge entblößen. „Holzfäller“ wirkt teilweise wie eine Low-Budget-Hommage an die Massenchoreografien des Ungarn Miklos Jancso, teilweise wie ein Buster-Keaton-Fim aus dem Gulag, bleibt dabei stets völlig eigenständig. Man spürt sehr genau die Spannung, unter der Darsteller wie Regisseur standen. In weitaus höherem Maße als in der späten DDR war es in der UdSSR vor Gorbatschow gefährlich, gegen das staatliche Bilderverbot aufzubegehren. Tatsächlich wurde das gesamte Team nach den Dreharbeiten verhaftet und, von Hunden eskortiert, zur nächsten Polizeiwache verbracht. Das vorher belichtete Filmmaterial konnte glücklicherweise gerettet werden.

In all seinen späteren Arbeiten kommt Jewgeni Jufit auf das Trauma gemeinschaftlicher Gewaltentladung zurück. Sein Blick ist dabei der eines Anthropologen, er registriert die allgegenwärtige Aggressivität als Phänomen, enthält sich aber einer moralischen Wertung. In „Der Frühling“ (1987) und „Selbstmörderische Wildschweine“ (1988) verschneidet er Rituale selbstzerstörerischer Männerbünde mit stalinistischem Propagandamaterial. In den 90er-Jahren kann der Filmemacher mit größeren Budgets operieren; seine Bilder werden sauberer, die Plots komplexer.

In „Papa, Väterchen Frost ist tot“ (1991) konfrontiert er einen Forscher mit dem Eigenleben einer von Hominiden und Vampiren bevölkerten, mythischen Landschaft. ln „Killed by Lightning“ (2003) seiner jüngsten, erstmals in Deutschland zu sehenden Arbeit, greift er dieses Zusammentreffen von Hoch- und Vorzivilisation auf. Sein Fazit: Eine Weiterentwicklung findet nicht statt. Der Film ist der sepiafarbene Alptraum eines Mädchens, das dem Mythos ihres als U-Boot-Kommandanten verschollenen Vaters nachhängt. Ihre Spurensuche in Datensystemen und Museumssälen führt zurück zu den Sümpfen, wo alles begann. An diesen nicht trockenzulegenden Urgewässern erschlägt Kain immer wieder seinen Bruder. Trotz globaler Vernetzung bleibt die Kreatur der unerbittliche Neider ihrer selbst.

Filme von Jewgeni Jufit sind ab heute im Filmkunsthaus Babylon, Berlin, zu sehen; Informationen unter: www.fkh-babylon.de