Ausgeflogen unter höchst mysteriösen Umständen

Im südlichen Niedersachsen ist eine Kolonie von fast zweihundert trächtigen Fledermäusen au einem Kirchturm geflohen. Warum weiß keiner. Und gesehen hat sie seither auch niemand

Kennen Sie den? Sitzen zwei Mäuse auf der Fensterbank und schauen in die Dämmerung hinaus. Da fliegt plötzlich eine Fledermaus vorbei. „Oooch, guck mal“, sagt ein Mäuschen ganz verzückt, „da war eben ein Engel“.

Fledermäuse sind vielleicht keine Engel, aber sie sind wahnsinnig gern in der Kirche – besonders das „Große Mausohr“. Die gefährdete Art sucht sich ausschließlich Kirchtürme oder geräumige Dachstühle in Schlössern oder Burgen, um dort ihre Babies großzuziehen und ihnen das Fliegen beizubringen. Und ausgerechnet eine solche Wochenstube wurde jetzt in der Moringer Liebfrauenkirche aus mysteriösen Gründen gestört.

Fast 200 trächtige Fledermäuse haben sich in dem Kirchturm zuletzt aufgehalten. „Das war eine unserer größten Kolonien“, sagt bedauernd Thomas Steinbüchel vom zuständigen Naturschutzbund (Nabu) Northeim. „Pfingstsonntag waren wir noch mit dem Nachtsichtgerät am Zählen“, so der ehrenamtliche Helfer. Und wenige Tage später waren sie plötzlich weg. Und wurden nicht mehr gesehen. Ein Rundruf bei den umliegenden Gemeinden hat bislang nichts ergeben. Auch auf die Berichte der örtlichen Zeitungen hin hat sich niemand gemeldet. „Wenn die Fledermäuse kein passendes Quartier finden, dann wird nichts aus dem Nachwuchs“, skizziert Steinbüchel die drastischen Folgen.

Das Verschwinden der Fledermäuse sei, so auch Bärbel Pott-Dörfer vom Landesamt für Ökologie, eine „üble Geschichte“, die das Amt nun untersuchen will. „Die Moringer Kolonie war eines der bedeutendsten Vorkommen.“ Das Große Mausohr ist eine von etwa 20 in Deutschland heimischen Fledermausarten. Insgesamt gibt es in Niedersachsen nur etwa 25 Kolonien – die meisten davon befinden sich im südlichen Teil. In ruhigen und warmen Dachstöcken werden im Juni und Juli die Jungen geboren, in der Regel ein einziges pro Muttertier. Oft sind mehrere hundert Weibchen in diesen so genannten Wochenstuben beieinander – die Männchen leben derweil einzeln in anderen Verstecken.

Seit den 50er Jahren hat die Zahl der Mausohren heftig abgenommen. Zum einen, weil ihnen durch Pestizide die Käfer-Nahrung abhanden kam – in jüngster Zeit ist die Art aber hauptsächlich durch die Vernichtung ihrer Quartiere gefährdet. Top sanierte Dachstühle und fest verschlossene Fensterritzen lassen ihnen keine Möglichkeit mehr, sich in den alten Gebäuden einzunisten. In Moringen hat man daher seit Jahrzehnten darauf geachtet, der jährlich wiederkehrenden Kolonie eine anständige Bleibe zu bieten.

Nicht nur die Naturschützer, auch die Gemeinde trauert daher jetzt um ihr „Wahrzeichen“, die Fledermaus-Kolonie. „Uns ist völlig unerklärlich, wie das passieren konnte“, rätselt die Pastorin der Kirche Damaris Frehrking. Dass Reinigungskräfte die Flucht verursacht haben – wie der örtliche Naturschutzbund mutmaßt – weist die Pastorin von sich: „Als der Turm gereinigt wurde, waren die Fledermäuse schon weg.“ Tatsächlich laufen zurzeit Vorbereitungen für eine – selbstverständlich fledermausgerechte – Renovierung des Kirchturms. „Aber damit wollten wir extra warten bis die Tiere im Herbst ihr Quartier verlassen haben.“ Was jetzt passiert ist, sei „im Grunde mysteriös“. Lärmempfindlich seien die Tiere nämlich nicht, die einerseits ihre Schlafstätte unmittelbar unter der Glocke haben und andererseits durch die Lage der Kirche mitten im Ort an Auto- und Motorenlärm gewöhnt sind. „Es ist ganz einfach ein richtiges Fiasko“, so die Pastorin deprimiert. Die alljährliche Fledermausnacht, die dieses Jahr am 19. Juni stattfindet, soll aber dennoch steigen. „Sie soll gerade jetzt stattfinden“, so Naturschutzbund-Vertreter und Pastorin unisono: „Dann können wir den Leuten nahe bringen, wie empfindlich diese Tiere letztlich sind.“

Elke Heyduck