Landlose wittern Morgenluft

Brasilianische Bauernbewegung erlebt massiven Zulauf. Die Agrarreform steht jetzt endlich auf der Tagesordnung der Regierung. Zwei Landlosen-Führer ermordet

PORTO ALEGRE taz ■ Mit Symbolen Politik machen – das gehört zu den Spezialitäten des brasilianischen Präsidenten. Als Luiz Inácio Lula da Silva vergangene Woche die Führung der Landlosenbewegung MST empfing, setzte er kurz deren rote Schirmmütze auf – mit verblüffenden Folgen: Erstmals seit sechs Monaten war die rechte Opposition als solche erkennbar, und die Nation debattierte, ob sich Lulas Geste mit dem Amt eines Staatschefs vereinbaren lässt.

Bei dem Treffen im Präsidentenpalast wurde auch nicht über einen „Waffenstillstand“ verhandelt, wie es die Großbauern, deren Vertreter im Parlament und die meisten Kommentatoren gerne gehabt hätten. Die mediale Mehrheitsmeinung lautet: Auf dem Lande herrscht „Krieg“, und schuld daran sind die „Revolutionäre“ von der MST. Die Landlosen hielten sich an Fußball-Metaphern: In der Mannschaft der Agrarreform sei Lula Mittelstürmer, der zuständige Minister Rossetto Linksaußen und Finanzminister Palocci Rechtsaußen, scherzte MSTler Ênio Bohnenberger. Nach der zweieinhalbstündigen Runde unter Parteifreunden sagte sein Kollege João Pedro Stedile ein „5:0 gegen den Großgrundbesitz“ voraus.

Gegenüber der taz begründete Stedile seinen Optimismus damit, dass sich unter der Regierung Lula „die Kräfteverhältnisse verschoben“ hätten, und: „Unsere Basis ist hoch motiviert.“ Der Präsident sehe in der Landreform das „wichtigste Programm zur Armutsbekämpfung und gegen die Arbeitslosigkeit“. Zusammen mit der nachlassenden Repression durch die Polizei und der Hoffnung auf eine funktionierende Landreform beschert sie der MST einen Zulauf wie schon lange nicht mehr. Nach Schätzungen halten sich 150.000 Familien in Zeltlagern auf – zu Jahresbeginn waren es noch 60.000. 120 Landbesetzungen gab es seither. Doch da nur noch in Ausnahmefällen so brutal geräumt wird wie früher, heuern Großgrundbesitzer private Milizen an. Am Donnerstag ermordete ein bewaffnetes Kommando zwei Landlosen-Führer im nordöstlichen Bundesstaat Maranhão. Die Männer hätten mit anderen Landlosen wiederholt Güter besetzt, teilte ein Kleinbauern-Verband mit.

Bisher sah sich die Regierung zu schnellen Landzuweisungen außer Stande. Ob es dem Linken Miguel Rossetto gelingen wird, das Ministerium für ländliche Entwicklung zu entbürokratisieren, bleibt abzuwarten. Die MST fordert die Ansiedlung von 120.000 Familien noch in diesem Jahr. Dabei ist es angesichts leerer Haushaltskassen unwahrscheinlich, dass die Regierung ihr Ziel von 60.000 Familien erreicht. GERHARD DILGER