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Schaum vor dem Mund

Terror kann man erinnern, aber nicht kopieren: Zwei Projekte des internationalen Performance-Festivals „In Transit“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt beschäftigt die Erfahrung der Gewalt

Zwischen „finden“ und „erfinden“ gibt es keinen ontologischen Unterschied

VON CHRISTIANE KÜHL

Die „Kanzler-U-Bahn“ in Berlin verbindet den Lehrter Bahnhof mit dem Kanzleramt und dem Reichstag. Dass nur wenige Menschen sie kennen, ist dem einfachen Umstand geschuldet, dass hier keine Züge verkehren. Nach dem Ausbau des Tunnelsystems wurde die Fertigstellung des Projekts 2001 gestoppt – was nicht verwundert, sorgt doch die Unterhöhlung des Regierungsviertels mit öffentlichem Verkehrswesen für eine erschreckend praktische Kongruenz von Soft und Hard Target. Eine voll besetzte U-Bahn durch die Glaskuppel des Reichstags in den blauen Himmel zu jagen, gibt bei al-Quaida garantiert das volle Jungfrauenkontingent; weshalb plietsche deutsche Sicherheitsdienste von der Inbetriebnahme der Kanzer-U-Bahn abgeraten haben. Denkt man. Und denkt, wie so oft, falsch: Berlin war 2001 schlicht das Geld ausgegangen.

Mit unserer Lust an Schreckensszenarien und der wachsenden Bereitschaft, öffentliche Orte mit dem größten anzunehmenden Unfall aufzuladen, spielt Kazuku Watanabes Inszenierung „Underground“ im Rahmen des In-Transit-Festivals, das das Berliner Haus der Kulturen der Welt bis zum 13. Juni veranstaltet. Watanabe bedient sich dabei Texten aus Haruki Murakamis gleichnamigen Buch, in dem der japanische Schriftsteller Interviews mit Überlebenden des Giftgas-Anschlags auf die Tokioer U-Bahn 1995 aufgezeichnet hat. Was die Gespräche verbindet, ist ein Gefühl des Unfassbaren: unfassbar ist, überlebt zu haben, während der Sitznachbar starb; unfassbar ist die ausbleibende Heimkehr des Ehepartners; unfassbar ist, dass Weiterleben mit dieser Erfahrung möglich ist. Auch Mitglieder der Aum-Sekte kommen zu Wort, die nicht fassen wollen, dass der Geist ihres Gurus Shoko Asahara den Terror initiiert haben könnte.

Mit den Textauszügen, die Kazuko Watanabe am Wochenende in der leer stehenden Kanzler-U-Bahn zur Aufführung bringt, definiert sie ihr Ziel so klar wie sie es dann auch verfehlt: Der Terror soll hier greifbar sein. Die Schauspieler zwischen den Gleisen identifizieren sich mit den Opfern, blicken sehr leidend und bemühen sich um Rekonstruktion – mal der Situation in der U-Bahn oder im Krankenhaus und mal des späteren Interviews. Aber der Schock lässt sich nicht reproduzieren, nicht nur, weil das Berliner Publikum parallel mit gebratenen Nudeln und Caipirinha verköstigt wird. Terror und Angst kann man erinnern, analysieren oder einjagen, nicht aber kopieren. Vor allem nicht dadurch, dass deutsche Schauspieler auf der Bühne gefilmt und dem Zuschauer zwischen japanischen Statisten im Fernsehdoku-Format vorgeführt werden. Derartige technische Distanzierung ist sinnvoll, wenn man über den Unsinn vermeintlicher TV-Authentizität sprechen will – nicht aber, um das Grauen heranzuzoomen. Als am 20. März 1995 in Tokio Sarin freigesetzt wird und Pendler mit Schaum vorm Mund krepieren, ist das Geschehen fern, doch der Albtraum leibhaftig in unseren Köpfen. Wer heute darüber spricht, sollte sich bewusst sein, dass es ein „Sprechen über“ ist.

Ein Spezialist auf diesem Gebiet ist der im Libanon aufgewachsene, in New York lebende Künstler Walid Raad. Auch er zeigte am Wochenende im Rahmen des Festivals eine Arbeit, die sich auf den Terror bezieht: „My Neck is Thinner Than a Hair“ ist eine Lecture-Performance über Autobomben. Oder genauer, wie der Untertitel festlegt: „A History of the Car Bomb in the 1975–1991 Lebanese Wars_Volume 1: January 21, 1986“. Walid Raad, Kopf des Netzwerks The Atlas Group, hat das Projekt gemeinsam mit dem Journalisten Bilal Khbeiz und dem Architekten Tony Chakar entwickelt. Worum es ihnen geht, ist weniger das Ereignis selbst, als die Form, in der es erinnert wird. Wie schreibt sich ein Ereignis in die Psyche ein, wie in das kollektive Gedächtnis? Was wird erinnert, was vergessen? Und vor allem: Wo finden sich Spuren der Ereignisse, auch jener, die vergessen sind? Ziel und ästhetische Strategie der Atlas Group ist es, diese Spuren des libanesischen Bürgerkriegs zu finden und ein Universum zu erfinden, in denen sie Sinn machen.

Dass es sich um Erfindungen handelt, verheimlicht Raad an keiner Stelle, auch wenn die Recherche in der Form eines akademischen Vortrags präsentiert wird. The Atlas Group, stellt er zu Beginn des Abends klar, ist ein Archiv, das Dokumente „sammelt, untersucht und produziert“. Solange die Dokumente helfen, die Komplexität des Bürgerkriegs zu erhellen, gibt es zwischen „finden“ und „erfinden“ keinen wesentlichen ontologischen Unterschied. Wer das Leben wie auch die Geschichtsschreibung im Blick hat, erkennt, dass Ereignisse und Vorstellungen nicht Gegensätze, sondern im kontinuierlichen Austausch sind.

Zwischen 1975 und 1991 explodierten im Libanon 3.614 Autobomben, behauptet Raad, und diese Zahl darf wie alle folgenden angezweifelt werden. „Volume 1“ der geplanten 3.614 Kapitel der Geschichte der Autobomben konzentriert sich auf jene, die am 21. Januar um 11.22 Uhr in Beiruts Ortsteil Fum al-Chubak detonierte. Mithilfe eines computergenerierten Diagramms visualisiert Raad im Folgenden unendliche Zahlenreihen (8 Menschen getötet, 5 Häuser zerstört, 21 Läden beschädigt, etc.), geographische Beziehungen (die Lage der Krankenhäuser, Parteizentralen, etc.) sowie personelle Verwicklungen. Während der Zuschauer versucht, die Zusammenhänge zu erkennen, gerät vor seinen Augen das anfangs klare Diagramm zu einer immer unüberschaubareren Collage von Linien, Fotos, Logos und Symbolen. Neue Diagramme präsentieren neue Datenberge, die den Kern des Geschehens stets ungreifbarer machen. „Ich hoffe, das war klar“, verabschiedet sich Raad, wohl wissend, nichts als Verwirrung produziert zu haben.

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