: Nach der Kant-Krise
Irrtum, Misstrauen, Verdacht: Viele Feinde hat die Erkenntnis des Wirklichen in Kleists „Die Familie Schroffenstein“. Michael Thalheimer findet dafür in seiner Kölner Inszenierung stupende Bilder
VON ALEXANDER HAAS
Die Eröffnung gehört der Offmusik Bert Wredes, eines häufigen Partners des Regisseurs Michael Thalheimer, der mit dieser Aktualisierung von Kleists frühestem Drama „Die Familie Schroffenstein“ zum ersten (und vorerst letzen Mal) in Köln inszeniert hat. Dunkel und spannungsvoll setzt Wrede seinen elektroakustischen Groove aus sparsamen Gitarrenakzenten in den finsteren Theaterraum. Was da kommt, wird mächtig nach unten ziehen.
Die folgenden Bilder sind von stupender Originalität. Vielleicht nicht das allererste, angesichts dessen man kurz noch fürchtet, es womöglich, entgegen aller Erfahrung mit diesem Regisseur, mit altem Theatergeklapper zu tun zu bekommen. Rupert von Schroffenstein bewegt sich in Ritterrüstung über die gekippte Spielfläche der Bühne von Olaf Altmann. Doch schon der zweite Blick zeigt, dass der Schauspieler Lukas Holzhausen seine Rüstung mit einer ziemlich hässlichen Jeans kombiniert hat. Auch die schwarzen Stiefel sind eher von C & A (Kostüme: Michaela Barth). Dann beginnt er zu taumeln, kann sich kaum halten auf der Schräge, führt einen seltsamen Kampf im Leeren auf, gegen nichts, kaum fähig, sein riesiges Schwert gegen welchen Feind auch immer zu heben. Jetzt folgt ein noch merkwürdigeres Wesen. Anja Laïs als Ruperts Frau Eustache läuft wie benebelt über die Bühne, gebeugt, wankend, beinahe zu Wredes Groove wippend, den Mund halb offen, totenblass. Vor ihrer Brust trägt sie – auf immer unfähig (so viel ist sofort klar), dieses Gerät jemals zu bedienen – ein archaisches Kriegsinstrument mit stacheligem Metallkopf.
Irgendwann sind die meisten Figuren auf der Bühne – jede für sich der Realität entrissen. Im eigenen Film befangen, starren sie ins Publikum. Es ist erstaunlich, wie es Thalheimer in dieser Inszenierung gelingt, vielleicht so gut wie lange nicht mehr, durch präzise choreografierte und durchdachte Bilderfindungen scheinbar wie im Handstreich einen völlig unerwarteten Zugang zu Kleists widerspenstigem Stück zu schaffen. Wieder bürstet der Regisseur ein Stück gegen den Strich, setzt ihm radikal einen eigenen Stempel auf und akzentuiert so doch einen Kleist-typischen Aspekt dieses Rachedramas zwischen den verfeindeten Familien der Häuser Rossitz und Warwand: den beinahe fatalistisch zu nennenden Zug, mit dem sich Konflikte zwischen Kleist-Figuren zu realitätsentrückten Türmen der Verstrickung aufbauen, Verstrickungen im Zweifel an den Glauben der möglichen Einsicht und der Güte von Welt und Menschen.
Kleist schrieb die „Schroffensteins“ nach seiner so genannten Kant-Krise, die ihm den Glauben an die Erkennbarkeit der wahren Welt zerstörte. In seinem Drama befehden sich die zwei Clans vor der Folie eines Erbvertrags, der nur dem Überlebenden die Macht sichert. Entscheidend für die dramatische Entwicklung aber sind die Irrtümer, das gegenseitige Misstrauen und die Verdächtigungen; sie erst führen die jeweiligen Figuren zu ihren Gewalttaten.
Mitten hinein in diesen Pfuhl der Projektionen setzt Kleist das Liebespaar Ottokar und Agnes aus den verfeindeten Häusern. Auch zwischen ihnen gelingt keine unverstellte Verbindung, obwohl sie die Einzigen sind, die für Momente daran glauben. Thalheimer greift in einer Szene mit den Liebenden allerdings auch daneben, wenn er sie in heftigen Bewegungen aufeinander prallen, sich umklammern und wieder abstoßen lässt. So deutlich hätten wir es nicht gebraucht, um zu kapieren, dass Liebe unter der Paranoia des Misstrauens und der Psychodynamik von Familien eine Qual sein kann.
Geändert hat der Regisseur vor allem den Schluss des Dramas. Während Kleist die finale Läuterung in einer unglaubwürdigen tragischen Überhöhung suchte, indem er Agnes und Ottokar von ihren Vätern getötet werden lässt, schlucken die zwei hier aus eigenem Entschluss Gift. Die Konzentration und Konsequenz, die Thalheimer so gelingt, stellt die gesamte Inszenierung noch schärfer in den Erinnerungsraum. Das Kölner Ensemble, während der mittelmäßigen Intendanz von Marc Günther bislang nicht aufgeblüht, läuft unter dieser Regie zu eindrucksvoller Form auf. Fast jeder Schauspieler findet befremdlichste Ausdrucksformen, um das Inszenierungskonzept geradezu filmisch präsent werden zu lassen: Wir wissen nicht, warum wir das tun, was wir tun, und es tut uns weh; aber kontrollieren können wir es nicht. Vielleicht ist das sogar schon zu finster über Kleist hinausgedacht.
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