Radikaler vor dem Sprung an die Spitze

Am Sonntag wählen die Serben einen neuen Präsidenten. Diesmal ist eine Mindestwahlbeteiligung nicht vorgesehen. Der Einzug des Ultranationalisten Tomislav Nikolić in die Stichwahl gilt als sicher. Sollte er siegen, droht Serbien erneut die Isolation

AUS BELGRAD ANDREJ IVANJI

Eins ist diesmal sicher: Serbien wird bis Ende Juni einen Präsidenten bekommen. Dreimal scheiterten die Wahlen an geringer Beteiligung. Doch das Gesetz wurde geändert, der lästige Zensus, der eine Beteiligung von mindestens fünfzig Prozent vorschrieb, abgeschafft. Am 13. Juni findet die erste Runde statt, die Stichwahl zwei Wochen später.

Unter den fünfzehn Kandidaten gibt es drei Favoriten: Tomislav Nikolić von der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS) als Stellvertreter von SRS-Chef Vojislav Šešelj, der sich im Gefängnis des UNO-Tribunals für Kriegsverbrechen in Den Haag befindet; Boris Tadić, Kandidat der Demokratischen Partei (DS), der für die Fortsetzung der proeuropäischen Reformpolitik des vor einem Jahr ermordeten Premiers Zoran Djindjić steht; und Dragan Marsicanin, Kandidat der Minderheitsregierung, die von Milošević-Sozialisten unterstützt wird. Laut Umfragen wird keiner der drei Favoriten schon in der ersten Runde mehr als fünfzig Prozent der Stimmen bekommen. Man ist sich jedoch einig, dass Nikolić als Einziger sicher die Stichwahl erreicht.

Der Radikale pocht auf das Serbentum, vermischt dieses jedoch geschickt mit brennenden sozialen Fragen. Er predigt ein „sauberes“ Serbien und verspricht, mit dem organisierten Verbrechen abzurechnen. Die Privatisierung bezeichnet Nikolić als „Plünderung Serbiens“, die Massenentlassungen und eine Arbeitslosigkeit von rund fünfzig Prozent zur Folge hätte. Der Radikale ist entschieden gegen die Auslieferung von Serben an das Haager Tribunal, und für die Rückkehr serbischer Streitkräfte in den Kosovo.

Dieses Programm kommt gut bei den Wählern an. Doch anstatt sich gegen das Gespenst des Ultranationalisten energisch zu vereinigen, kämpfen die zwei „demokratischen“ Kandidaten gegeneinander um den Einzug in die Stichwahl. Marsicanins Wahlstab beschuldigte Tadić sogar, er würde die Identität von Djindjić’ Mördern verheimlichen. Der konservative Marsicanin gibt den Mann aus dem Volk, der Präsident der „einfachen“ Bürger werden will. Er steht für traditionelle Werte: Nationale Fragen vor internationalen Verpflichtungen, Aufbau von Institutionen vor Reformen, Religion vor Fremdsprachen im Unterricht.

Hinter Marsicanin steht eine schwache Minderheitsregierung, seine Koalitionspartner unterstützen ihn nur halbherzig. Im Hintergrund seiner Kampagne steht der Versuch, der ehemaligen Regierung Djindjić „Machenschaften“ und „Korruption“ nachzuweisen, was indirekt Tadićs Image schaden soll.

Tadić lässt sich auf das Spiel ein und distanziert sich von Djindjić. Dem gut aussehenden, fesch gekleideten Frauenliebling seien wenigstens viele weibliche Stimmen sicher, heißt es. Tadić sollte die kompromisslose, prowestliche Reformpolitik repräsentieren und die Energie wieder zum Leben erwecken, mit der Djindjić seinerzeit Serbien in Richtung Europa führte. Der Exverteidigungsminister hat sich jedoch für eine kompromisshafte Wahlkampagne entschieden. Er will für eine Versöhnung aller verfeindeten politischen Fraktionen sorgen. Viele seiner Parteigenossen werfen ihm eine „übertriebene“ Toleranz gegenüber „verbohrten Nationalisten“ vor.

Obwohl der Präsident Serbiens keine großen Vollmachten hat, würde ein Sieg des Radikalen Nikolić Serbien international isolieren, Auslandsinvestoren abschrecken und vorgezogene Parlamentswahlen auslösen. Das wirtschaftlich und sozial ruinierte Land droht wieder den Anschluss an europäische Integrationsprozesse zu verlieren.

Der Rahmen, in dem sich die Wahlen abspielen, ist schlecht: Die unter dem Druck der EU entstandene Staatengemeinschaft Serbien und Montenegro hat sich als funktionsunfähig erwiesen; der Status des Kosovo, das unter UN-Protektorat steht, und der der Vojvodina sind ungelöst; die ethnischen Spannungen zwischen Serben und Albanern in Südserbien werden unter dem Aufmarsch der „nationalen“ Kräfte in Serbien wachsen.

Die Präsidentschaftswahlen sind gleichzeitig ein Referendum: Entweder stimmen die Serben für Tadić und Europa oder mit Nikolić für den serbisch-orthodoxen Weg. Marsicanin steht für ein regierendes Sammelsurium, eine von Milošević-Sozialisten unterstützte Minderheitsregierung, die unabhängig von den Präsidentenwahlen kaum Chancen hat, sich lange zu halten.