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Der Schlichter im heiligen Gral

Der neue „New York Times“-Chef Bill Keller soll wieder Ruhe in die von Skandalen zerrüttete Redaktion bringen

Es muss schon eine besondere Ironie über der Szene gelegen haben, die sich am Montag in der Redaktion der New York Times abgespielte: Am gleichen Tag, an dem Herausgeber Arthur Sulzberger jr. dem Blatt seinen neuen Chefredakteur Bill Keller präsentierte, fand sich in der aktuellen Ausgabe eine weitere umfangreiche Korrektur in eigener Sache. Dieses Mal ging es um ein Porträt des in einen langwierigen Rechtsstreit verwickelten Plattenfirmenbosses Steven Gottlieb, das laut NYT „von falschen Voraussetzungen ausging“ und darüber hinaus „mehrere sachliche Fehler enthielt“.

Der bisherige politische Kolumnist Keller, seit bald 20 Jahren bei der NYT, soll nun Ruhe in die Redaktion bringen. Denn im heiligen Gral des US-amerikanischen Ostküstenjournalismus schwelt längst nicht nur die Affäre um die teils anderswo abgeschriebenen, teils frei erfundenen Berichte des NYT-Reporters Jayson Blair.

Immer mehr zeichnet sich – auch in der Berichterstattung des Blattes über seine eigenen Angelegenheiten – ab, dass es vor allem um grenzenloses Unbehagen über Führungsstil wie journalistisches Konzept von Kellers Vorgänger Howell Raines geht. Der mittlerweile Geschasste – offizielle Begründung: die Verantwortung im Fall Blair – hatte der gerne als „Grey Lady“, als graue Dame verspotteten NYT eine innerredaktionelle Wettbewerbsstruktur verordnet. Noch in seinem ersten Interview nach seiner Entlassung ließ sich Raines laut NYT über deren „lethargische Kultur der Selbstgefälligkeit“ aus. Als Sofortmaßnahme läutete Keller, 54, mehrere Jahre als Managing Editor selbst für das Redaktionsmanagement zuständig, noch vor seinem offiziellen Dienstantritt am 30. Juli den journalistischen Paradigmenwechsel ein: Er sehe „Journalismus nicht als endloses Angriffsgefecht“, sagte Keller, Redakteure wie Reporter sollten vielmehr das „Leben ein bisschen mehr genießen“, mehr Zeit mit der Familie verbringen oder sich mal wieder Kunst zu Gemüte führen: „Das wird euch und und eure Arbeit genauso bereichern wie ein auf Wettbewerb getrimmter Pulsschlag.“ Die Mitarbeiter, berichtet die NYT, habens gern gehört.

Keller, der 1989 als Moskauer Bürochef der Zeitung den Pulitzer-Preis für Auslandsberichterstattung holte, gilt dabei alles andere als laid-back. „Defensivjournalismus“ sei bei ihm, dem bekennenden Liberalen, der in seinen Kolumnen dennoch den Irakkrieg befürwortete und George Bushs frommer Zielstrebigkeit etwas abgewinnen konnte, nicht zu haben.

Dennoch geht mit Keller ein vor allem von Herausgeber und Hauptaktionär Sulzberger betriebenes Experiment, die NYT neu zu positionieren, wenigstens vorübergehend zu Ende. Und auch wenn der Neue seinem Vorgänger natürlich „nichts nachträgt“, könnte sich Keller das Gefühl gewisser Genugtuung ruhig leisten: Schließlich war er vor knapp zwei Jahren der einzig ernsthafte Kandidat neben Raines im Rennen um den NYT-Chefsessel. So schnell wie dieser dürfte er ihn nicht wieder hergeben. Sulzberger, der derzeit noch ein bisschen bei der Begründung herumeiert, warum der damalige Verlierer heute den Retter darstellt, kann das recht sein. Der neue Chefredakteur, kommentierte süffisant der britische Observer, dürfte ihn jedenfalls längst nicht so erschrecken wie dessen Vorgänger. STG

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