Neuigkeiten vom Kallendrisser

Köln als Tummelplatz von Nazis, Dachrinnenscheißern, Heiligen und Nutten: Bei den alternativen Stadtführungen von „Stattreisen“ wird Stadtgeschichte seit 15 Jahren als Alltagsgeschichte erzählt

Von Claudia Lehnen

Sie hat auch ihre unappetitlichen Seiten. Zuweilen riecht sie etwas streng. Sie hat ordinäre Anwandlungen, soviel ist sicher. Und oft zeigt sich die, der man eigentlich in erster Linie rheinischen Frohsinn unterstellt, in ihrer schonungslosen Blutrünstigkeit. Marion Müller packt die nicht immer Adrette trotzdem auf offener Straße aus und zeigt sie jedem, der sie sehen möchte.

Heute sind es knapp zwei Dutzend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Behindertenwohnhauses in Eitorf, die der Betriebsausflug nach Köln geführt hat und die ganz genau mitkriegen wollen, was Müller da vor ihnen enthüllt: die Geschichte Kölns, ihre „Sagen und Legenden“, wie die Führung der Stattreisen-Mitarbeiterin heißt.

Seit 15 Jahren gibt es das alternative Stadttour-Programm nun schon in den beiden Städten Bonn und Köln. Die Bonner begehen ihren runden Geburtstag am Sonntag mit einem „Sternmarsch auf Bonn“, an dessen Ende eine Geburtstagsparty auf die Teilnehmer wartet. Zeit zum Geburtstagskerzen-Ausblasen hat man sich im kleinen Kölner Büro zwischen Rathaus und Dom nicht genommen. Wahrscheinlich, so lässt Vorstandsmitglied Müller anklingen, habe man das Jubiläum einfach vergessen.

Vielleicht ist der Glanz am Ehrentag auch eine Sache, die nicht so recht passt zu einem alternativen Stadtführungskonzept. Vielleicht stimmt aber auch, was Heike Rentrop, ebenfalls Vorstandsmitglied, sagt, und die fehlende Feier ist Teil eines großen Plans, der schon lange in den Köpfen der Vereinsmitglieder reift: Gefeiert wird nicht der fünfzehnte, sondern der siebzehneinhalbte Geburtstag in zweieinhalb Jahren. „Wir wollen ein schräges Datum haben“, sagt Rentrop.

Etwas tun, womit keiner gerechnet hatte, das scheint den Kölner Vereinsmitgliedern höllischen Spaß zu machen. Und damit liegen sie ganz in der Tradition der Kölnerinnen und Kölner, die im Laufe der Jahrhunderte an der Stadtgeschichte gestrickt haben. Das Unerhörte steckt in den meisten Geschichten, die Marion Müller an diesem Vormittag ihrer Reisegruppe erzählt. In welcher anderen Stadt hängt schon ein „Kallendrisser“, hochdeutsch „Dachrinnenscheißer“, über dem Marktplatz? Und wo sonst taucht urplötzlich der Stab des heiligen Petrus auf, eine Reliquie, zu der man auf die Schnelle eine erklärende Geschichte finden muss.

Wenn die 44 Jahre alte Stadtkennerin Müller, die hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig ist, von Köln erzählt, dann schlägt sie immer wieder die Hände vor ihrem Körper zusammen. Sie verfällt in den kölschen Dialekt, sie seufzt, lacht, grummelt und schreit. Es gibt reichlich Blut in ihren Führungen, ein paar ausgestochene Augen zum Beispiel. Es gibt Witziges und es gibt natürlich Liebesgeschichten. Langweilig ist es nicht, was Müller da macht. Und natürlich sagen alle, die mit Stattreisen etwas zu tun haben, ob sie nun in Köln, Bonn oder Aachen sitzen: „Wir wollten beweisen, dass Geschichte nicht langweilig sein muss. Dass Stadtführungen nicht nur aus der Aneinanderreihung von Geschichtswissen bestehen müssen.“

Der Kern der Stattreisen-Idee, die in den 80er Jahren überall in der Republik die üblichen Stadtbustouren in Frage stellte, besteht aber nicht nur in einer Äußerlichkeit wie der Darstellungsform. „Emanzipativ“ sollten die Stattreisen sein, sagt Norbert Volpert, Geschäftsführer der Stadtreisen Bonn. Und hinter diesem Wort steckt der Lebensanspruch einer ganzen Generation. Viele der Stattreisen-Gründungsmitglieder kamen aus der Außerparlamentarischen Opposition. Sie wollten Basisarbeit machen, sie recherchierten über Widerstandsbewegungen zur Nazizeit, sie wollten Elemente der sozialen Opposition in ihrer eigenen Stadtgeschichte dingfest machen. Und weil sie Interessantes entdeckten auf ihrer Spurensuche in die eigene Vergangenheit, hatten sie das Bedürfnis, auch anderen von ihren Ergebnissen zu erzählen. Nicht über das Mikrophon im Reisebus, sondern während eines Stadtspaziergangs, bei „Outdoorerlebnissen“, wie Volpert es gerne nennt.

Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit einer Stadt ist ein Initiationspunkt der Stattreisen-Geschichte. In den Führungen stellt dieses Thema aber nur ein Kapitel von vielen dar. Es ist der Alltag der Stadtbewohner, den die Stattreisen-Führer in ihren gut zweistündigen Fußmärschen Einheimischen wie Touristen nahe bringen. Und in diesem Alltag treten Nazis, Dachrinnenscheißer und Prostituierte zuweilen Hand in Hand auf.

Bei Tünnes und Schäl gegenüber Groß St. Martin endet der Spaziergang durch Kölns „Sagen und Legenden“. Müller macht ein paar Witze über die Kölner, gar über das Millowitsch-Theater, Schäl schielt ihr dabei mit Goldblick über die Schulter. Dass sie humorvoll, aber auch bissig sein kann, das gefällt der Kölnerin Müller an ihrer Arbeit bei Stattreisen am besten. „Wir müssen Köln nicht als tolle Fassade darstellen wie das Stadtangestellte meist angehalten sind zu tun.“ Zur Bekräftigung schiebt sie gleich einen Witz über den Oberbürgermeister hinterher. Und wenn sie ihre Gruppe zu typischen Touristentaten auffordert, wie jetzt, als sie erzählt, dass es Glück bringen soll, über Tünnes dicke Nase zu streicheln, dann tut sie das so ironisch distanziert, dass sich keiner mehr zu solchem Aberglaube hinreißen lässt. Vielleicht findet sich bis zum „krummen“ Jubiläum in zweieinhalb Jahren allerdings doch noch jemand, der Tünnes goldene Nase tätschelt.