Gunter ohne Grenzen

Schön grotesk präsentiert die Koproduktion des Steirischen Herbst mit dem schauspielhannover Händl Klaus‘ „Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen“ im Thalia in der Gaußstraße

von Katrin Jäger

Es ist unendlich heiß, kein Wasser weit und breit, nur drei Reihen von Bahnhofschließfächern füllen die Bühne. Gunter (Bruno Cathomas), der Arzt ohne Grenzen, irrt in den Schließfachschluchten umher, ein panisches „Es ist so still“ skandierend. Dazu unschuldige Kammermusik aus den Lautsprechern.

In seiner Inszenierung von Wilde oder Der Mann mit den traurigen Augen, einer Koproduktion des Steirischen Herbst mit dem schauspielhannover, die jetzt im Thalia in der Gaußstraße zu Gast war, setzt Regisseur Sebastian Nübling auf die klassischen Elemente der Horrorgroteske: Klaustrophobie definiert die Bühnenatmosphäre, steigert sich, als die beiden unzertrennlichen Brüder, Emil und Hanno Flick (Tim Porath und Peter Knaack) in ihren altrosa Landfrauenkleidern (Kostüme: Muriel Gerstner) dem verzweifelten Gunter im Bahnhof auflauern. Alte Bekannte aus dem Genre der Groteske ziehen vor dem geistigen Zuschauerauge herauf: Dürrenmatts Physiker, Kafkas Landarzt. Auch Hitchcocks Psycho lässt grüßen, als die Brüder den Arzt in ihr Geisterhaus locken. Deren Schwester Hedy (Simone Henn) vegetiert dort, leidet unter „Berührungsangst, die auf die Lunge schlägt“. Ein Zombie in ihren roboterhaften Bewegungen, Pulmologe Gunter findet keine bessere Idee, als „eine Lungendrainage zu legen“, sticht daneben, das Blut fließt, befleckt Gunters weißes Hemd und markiert ihn so als Mitglied der Zombiefamilie, während Hedy in bester Splattermanier in Verzückung gerät. „Ich bin ja mein eigener Quell !“, ruft sie aus.

Schlachtrufe aus dem Inneren zerbrochener Seelen bietet die Textvorlage des Österreichers Händl Klaus zuhauf. Indes gelingt es dem Regisseur, sie einzubetten in ein rhythmisches Geflecht aus Rennen, Sprechen, Ins-Schließfach-Pinkeln. Und er inszeniert das so, dass jede einzelne Handlung das Thema des Stücks – Auflösung – wiederholt und gleichzeitig neu komponiert. Aber eben nicht, indem alles in postmoderne Beliebigkeit zerfällt, sondern durch rhythmische Strenge: Die Brüder laufen, sprechen, prügeln stets synchron, mal im Gleichklang, dann wieder abwechselnd. Gunter dröhnt anfangs mit zitterndem Bass, er müsse „zu seinen Eltern nach Bleibach, ich muss pünktlich sein“, um später die Aussage wie nebenbei zu vollenden: „Meine Eltern sind tot.“

Das sitzt, eröffnet die Wahnwelt des Arztes, seinen unbewältigten Konflikt, vor allem mit dem Vater. In kafkaesker Manier schmettert Gunter seine Atom-Funkuhr gegen ein stählernes Schließfach. „Ungenau“ sei die, „zu spät“ und ein „Geschenk vom Vater“. Deshalb sei der nun Schuld daran, dass sein Sohn in dem Geisterkaff festsitze.

Die Stärke von Stück und Text liegt darin, mit Andeutungen zu arbeiten. Das eröffnet Phantasieräume: Während das Stück auf der Bühne abläuft, spinnen die Zuschauer ihre eigene Geschichte vom verlorenen Gunter. Ein assoziatives Spiel, an dessen Horizont Bedeutungen auftauchen und untergehen. Nichts ist fix, am wenigsten die Identität. Das erfährt Gunter, während er sich von der morbiden Familie Flick aufsaugen lässt, immer weniger einen Arzt darstellend, dafür aber immer mehr „ohne Grenzen“.