Der Dichter beim General

Ein Gipfeltreffen von Geist und Politik: So die gängige Lesart der Begegnung von Goethe und Napoleon in Erfurt 1808. Eine Studie des Historikers Gustav Seibt zeigt den Realisten Goethe

Es war ein Ereignis von weltpolitischer Bedeutung, als Napoleon im Oktober 1808 in Erfurt den russischen Zaren Alexander I. traf. Umrahmt von den Oberhäuptern der Satellitenstaaten im Rheinbund, wollte der Kaiser der Franzosen, dessen Armeen von Amsterdam bis Rom standen, den russischen Monarchen von einem Bündnis gegen Österreich überzeugen. Doch nicht das Gipfeltreffen von altem und neuen Europa, dessen Scheitern schließlich zum Sturz Napoleons führen sollte, blieb im kollektiven Gedächtnis haften, sondern eine Episode aus dem Kulturprogramm des Franzosenkaisers – die Begegnung mit Goethe.

„Vous êtes un homme!“ Viel mehr als diese Begrüßung durch Napoleon – und auch das erst spät und von Goethe selbst – gab es zwar kaum zu überliefern. Um Goethes „Werther“ und die privaten Verhältnisse des Dichters drehte sich das Gespräch anscheinend. Gerade die dürren Fakten aber beförderten Spekulationen bis hin zu Literarisierungen wie in Thomas Manns „Lotte in Weimar“.

Milan Kundera imaginierte in seinem Roman „Die Unsterblichkeit“ die Anwesenheit von Fotografen, was Napoleon bei ihm veranlasst, das Essbesteck wenigstens für einen Augenblick aus der Hand zu legen. Die Begegnung, längst zum Gipfeltreffen von Geist und Macht stilisiert, erschien als das, was sie physisch war: die Stehaudienz eines berühmten Dichters beim Frühstück eines noch berühmteren Generals.

Ganz ähnlich, wenn auch mit den Mitteln des Historikers blickt Gustav Seibt nun in seinem überaus kenntnisreichen, brillant erzählten Essay „Goethe und Napoleon – Eine historische Begegnung“ auf das Verhältnis des Dichters zu Bonaparte. Denn auch wenn der Autor kein Hehl aus seiner Bewunderung für Goethe macht, forscht er nach konkreten Motivationen für die sich verändernden Haltungen des vermeintlich apolitischen Klassikers.

Ob seine Begeisterung für das Urheberrecht im Code Napoléon oder seine Imagepflege für den Nachruhm: Nicht der Olympier, der Realist Goethe wird sichtbar, dessen Bonapartismus auch aus Erwägungen politischer und persönlicher Zweckmäßigkeit resultiert.

Im Gegensatz zu Christoph Martin Wieland, der Napoleons Potenzial schon 1798 erkannte, unterschätzte Goethe zwar lange den von ihm bespöttelten französischen „Mahomet“. Nach der Niederlage von Jena 1806 stand mit dem Zwergstaat Sachsen-Weimar, Verbündeter des besiegten Preußen, plötzlich aber auch Goethes Existenz auf dem Spiel. Im eigenen Haus bedrohten ihn Soldaten sogar mit der Waffe.

Er heiratete, erkannte seinen Sohn an, klärte offene Eigentumsfragen des ihm von Herzog Karl August geschenkten Hauses am Frauenplan und vollzog damit – wie Seibt pointiert –, was mit dem aufgelösten Reich im Ganzen geschah: Er überführte seine Verhältnisse von der überkommenen höfischen in die neue bürgerliche Ordnung.

Auch dass Goethe mit dem Berliner Hofhistoriker Johannes von Müller eine radikale Wende vollzog, erscheint bei Seibt geradezu folgerichtig: Müllers turnusmäßige, auf Französisch gehaltene Rede zum Geburtstag Friedrichs II. 1807, in der er Verbindungslinien vom Preußenkönig zum französischen Imperator zog und zu Besatzern wie Besiegten gleichermaßen sprach, machte auf Goethe einen solchen Eindruck, dass er eine eigenhändige Übersetzung publizierte. Bis ins Erinnerungsbuch „Dichtung und Wahrheit“, so weist Seibt nach, spiegelt sich das hier angeschlagene Thema seines Arrangements mit der Besatzung. Der aufkommende Patriotismus erschien Goethe als ein Fall sinnlosen Fremdherrschaftshasses.

Werk und Lektüren Goethes, Ideen- und Ereignisgeschichte: Seibt verknüpft all das auf das Spannendste. Goethe aber – das macht er ebenso deutlich – zerbrach diese Einheit spätestens mit Napoleons Sturz. Zum Ärger seiner Umgebung trug er zwar lange das Kreuz der Ehrenlegion. Doch die 100-Tage-Herrschaft „seines“ Kaisers im Jahr 1815 fürchtete Goethe nur noch.

Mit der endgültigen Niederlage Bonapartes in Waterloo hatte sich für den Konservativen Goethe der Kreis der von ihm verabscheuten Revolution geschlossen: Napoleon erschien ihm nicht mehr als deren Bändiger und Garant einer neuen Ordnung, sondern im Rückblick nur mehr als das ihn faszinierende Genie und quasi naturgewaltliches Phänomen. Dabei arbeitete Goethe in Gesprächen und Erinnerungen an das Erfurter Treffen auch an seinem Bild für die Nachwelt: der eigenen Ebenbürtigkeit mit dem „Titanen“.

ROBERT SCHRÖPFER

Gustav Seibt: „Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung“. C. H. Beck Verlag, München 2008, 288 Seiten, 19,90 Euro