Die Invasion der Badeentchen

von DIETMAR BARTZ

Die Badeentchen kommen! Wenn alles so eintritt, wie sich das der Ozeanograph Curtis Ebbesmeyer vorstellt, werden sie zum maßgebenden Ereignis der Sommersaison 2003, jedenfalls in Neuengland, dem äußersten Nordwesten der USA. Wo zahllose Landzungen und Inselchen, stille Buchten und sturmgepeitschte Kliffs die Küstenlinie gliedern, sollen derzeit hunderte Badeentchen anlanden, eine regelrechte Armada. Zehn Jahre lang hat Ebbesmeyer auf die bevorstehende Invasion aufmerksam gemacht. Jetzt ist es soweit. Urlauber und Einheimische, Strandläufer wie Bootsbesitzer sind angehalten, die Augen offen zu halten und einschlägige Funde zu melden. Wer an der Atlantikküste eine stark ausgebleichte Plastikente findet, die auf der Brust eine Markenprägung „The First Years“ trägt, darf sicher sein: Sie stammt aus dem Pazifik und ist von Ozean zu Ozean geschwommen.

Warum, weiß Ebbesmeyer genau. Der Meereskundler hat auch die legendäre Wiedervereinigung der Nike-Schuhe von 1991 für die Wissenschaft nutzbar gemacht und damit einen neuen Forschungszweig begründet, die Analyse der maritimen Oberflächenströmungen mittels Treibgut. Was mit großem Spaß an der US-Westküste begann, half später, die Seefahrt sicherer zu machen (siehe Kasten).

Turnschuhe vom Strand

1991 herrschte an der nordamerikanischen Pazifikküste „Nikemania“. Das ganze Jahr hindurch trieben tausende der nicht gerade billigen Sportschuhe an, die von modeverrückten oder auch sparsamen Strandläufern eingesammelt wurden. An manchen Tagen fanden sie mehr als hundert Schuhe. Die Treter waren trotz langen Aufenthalts im aggressiven Salzwasser tragbar. Dumm nur, dass die Funde allesamt Einzelstücke ohne Schnürsenkel waren. Erst als ein Küstenbewohner per E-Mail, Fax und Telefon eine Vermittlungsbörse mit der Angabe der Fundorte zum Abholen und Tauschen einrichtete, kam zusammen, was zusammengehörte: rechte und linke, große und kleine.

Die Presseberichte machten Ebbesmeyer aufmerksam. Gemeinsam mit dem Programmierer James Ingraham von der US-Fischereiverwaltung trug er die Meldungen zusammen und verglich sie mit Ingrahams Computerprogramm „Oscurs“ zur „Ozeanischen Oberflächenströmungssimulation“. Der Sportartikelkonzern fand anhand der Seriennummern auf den Schuhen heraus, dass sie von Bord des Containerschiffs Hansa Carrier“ stammten, das am 27. Mai 1990 tausend Meilen südlich von Alaska in schwerem Sturm fünf Container voller Nikes verlor. Vier davon öffneten sich und entließen 61.000 Sportschuhe. Volltreffer: Oscurs errechnete eine theoretische Treibzeit von 220 Tagen. Mit etwa 250 Tagen hatten die meisten Sportschuhe real kaum mehr Zeit gebraucht.

Nicht nur das. Das Oscurs-Programm, mit den Nike-Daten verfeinert, sagte auch voraus, dass die kreiselförmigen pazifischen Meeresströmungen viele Schuhe entlang der Küste von Alaska im Norden und von Hawaii im Süden wieder an die asiatischen Küsten zurückspülen würden und von da aus erneut mit der mächtigen Kurishio-Drift Richtung Amerika. Tatsächlich fanden sich 1993 auf den Hawaii-Inseln und 1994 in Japan und den Philippinen noch Nikes. Ein Exemplar von Hawaii soll sogar noch tragbar gewesen sein.

Ihre erfolgreichen Prognosen ließen Ebbesmeyer und Ingraham auch aufmerksam werden, als zwischen November 1992 und August 1993 vor der Südküste Alaskas 400 Badewannenspielzeuge auftauchten: gelbe Entchen, blaue Schildkröten, rote Biber und grüne Frösche. Nach langen Recherchen und gegen die Zusage, den Namen des Frachters nicht zu nennen, bestätigte ihnen eine Seeversicherung, dass am 10. Januar 1992 ein Frachter, der sich auf dem Weg von Hongkong nach Tacoma im US-Bundesstaat Washingon befand, auf Höhe der internationalen Datumsgrenze in schwere See geriet und dabei ein Dutzend Container verlor. Einer enthielt die Plastikspielzeuge – und zwar 29.000 davon. Wenn er sich nicht schon beim Losreißen an Bord geöffnet hat, muss der Behälter beim Sturz in die See aufgeplatzt sein. Ebbesmeyer wies experimentell nach, dass das Wasser innerhalb eines Tages die Pappstreifen gelöst haben muss, die die Verpackungsfolien zusammenhielten. Kurz nach ihrer Freisetzung passierten die Entchen die Stelle, an der zwei Jahre zuvor die Turnschuhe ihre Reise begannen.

Damit begann die vergleichende Treibgutforschung. Denn warum kamen die Nikes im Westen an, die Entchen aber im Norden? 1994 tauchten sie sogar an den Küsten des Beringmeers auf. Ebbesmeyers empirische Material nahm zu, nachdem am 9. Dezember 1994 schwere Breitseiten einige Container von Deck der „Hyundai Seattle“ fegten, die nach einem Brand im Maschinenraum steuerlos im Pazifik trieb, auch sie auf der Haupthandelsroute zwischen Ostasien und den USA. Diesmal gingen 2050 Schachteln Eishockey-Ausrüstung über Bord, mit schwimmfähigen Handschuhen und Brustschutzen, ferner hunderte von schwarzen Strandsandalen aus Plastik, die 1996 genau nach Plan in Oregon ankamen und von jenem Strandläufer gesichtet wurden, der fünf Jahre zuvor die Vermittlungsstelle für allein gelassene Nikes etabliert hatte.

Lego-Figuren in Seenot

Ebbesmeyer testete die Schwimmfähigkeit der Bierdosen, von denen ein chinesischer Frachter vor Hongkong eine halbe Million verlor. Er prüfte auch die Dichtigkeit deutscher Süßigkeiten: Denn der „Pol American“ ging vor Neuengland ein Container über Bord, der eine Million doppelt verpackte Stückchen „Riesen“-Schokolade enthielt – wie viele davon aufschwammen oder stecken blieben, konnte Ebbesmeyer nicht feststellen, wohl aber, dass sich wohl mindestens 100.000 mit dem Golfstrom nach Nordwesten aufmachten.

Beeindruckend war der Grund für eine Flut von Lego-Figürchen im Atlantik: Im Sturm vor Südengland riss eine Welle den schweren Frachter „Tokio Express“ in einen Winkel von 60 Grad hoch, danach rauschte er mit 40 Grad abwärts ins Wellental. Die Sturzseen spülten zahlreiche Container weg, darunter einen mit genau 4.756.940 Lego-Aquanauten, Kraken, Tintenfischen und Piraten. 53 der 100 Modelltypen in dem Container konnten schwimmen, ermittelte Ebbesmeyer und begrenzte damit die Zahl der Fundstücke auf 3,1 Millionen.

Keine Herausforderung mehr stellten für ihn die 33.000 Nikes dar, die aus drei zerstörten Containern am 15. Dezember 2002 ins pazifischer Meer gerieten und in diesem Frühjahr zwischen Seattle und Alaska ankamen. Den Zusammenhang von Strömungsstärke und Windgeschwindigkeit, Angriffsfläche und Routenverlauf hat Ebbesmeyer längst hinreichend mathematisiert. Voll gesogene Nikes ragen nur knapp mit den Hacken aus dem Wasser und hängen regelrecht in der Hauptströmung. Die Eishockey-Sets und vor allem die Schwimmtiere wurden jedoch nach und nach Richtung Norden geblasen. Einmal fütterte Ingraham Oscurs mit Wind- und Strömungdaten des äußersten Nordpazifik und erhielt ein überraschendes Ergebnis: Der Weg der Badeentchen führte sie durch die Beringstraße noch weiter Richtung Pol. Seit dem Winter 1994/95 dürften sie von Packeis eingeschlossen und von der Transpolar-Drift nördlich von Russland um acht Kilometer täglich Richtung Europa bewegt worden sein.

Nach fünf Jahren und 15.000 Kilometern sollte das Eis die Entchen irgendwo im Nordpolarmeer westlich von Spitzbergen freigeben – eine unter Polarforschern plausible Vermutung. Und nach weiteren vier Jahren im Ostgrönland- und Labradorstrom – auf der gleichen Route, die einst der Eisberg nahm, der die Titanic versenkte – könnten die Entchen in Neuengland ankommen – im Sommer 2003 eben.

Nur wird es eines Riesenzufalls bedürfen, um dies nachzuweisen. Die meisten Entchen kreisen weiterhin im Nordpazifik, laut Oscurs inzwischen im vierten oder fünften Umlauf. Zudem werden nur 0,1 bis 3 Prozent ausgesetzter Objekte wiedergefunden – das wissen Ozeanografen, die üblicherweise Treibflaschen zur Strömungsortung aussetzen. Solange kein Badeentchen im Atlantik gefunden ist, bleibt zudem unklar, wie sich ein möglicher Bewuchs mit Algen und Seepocken auf das Manövrierverhalten auswirkt. Vor allem aber ist die Kaltwasserströmung im westlichen Nordatlantik sehr schmal. Der größte Teil der Entchen aus dem arktischen Eis dürfte hingegen vom Golfstrom erfasst und nach Europa gspült werden, vor allem in die Fjorde Norwegens.

1998 hat Ebbesmeyer schon einmal eine Fehlprognose abgegeben. Damals kündigte er an, die 3,1 Millionen Lego-Figuren kämen in der Sommerferienzeit an den Atlantikstränden von Florida bis North Carolina an. Angelockt von den Medien suchten tausende von Kindern – vergeblich. In pazifischen Gewässern kennt sich Ebbesmeyer hervorragend aus, doch die atlantische Südwest-Oberflächenströmung war nicht so stark, wie er kalkuliert hatte. Der Golfstrom war stärker – und solche Figürchen wurden nach ihrer atlantischen Ehrenrunde tatsächlich in England gefunden.

Dabei böte eine Landung der Entchen in Neuengland noch eine besondere Ironie: Obwohl sie in China hergestellt wurden, kämen sie nach Hause. Ihre Eigentümerin, die Firma „The First Years“, sitzt knapp hinter der Küste in Avon, Massachussetts.