: Von den Kratzern in der Zeit
Hat Musik eine Farbe? Für Stefan Betke alias Pole schon, wie seine Veröffentlichungen bisher zeigten. Mit einem neuen Album aber, auf dem er Dub mit HipHop kreuzt, geht der Elektronik-Star neue Wege
von MAX DAX
Der Gründungsmythos ist inzwischen notorisch. Alles wäre sicher anders gekommen, wenn dieser Waldorf-Pole-4-Analogfilter nicht eines Tages seinen Geist aufgegeben hätte. Das Gerät produzierte mit einem Mal Störgeräusche, und das in unregelmäßigem Takt. Es knisterte, um genau zu sein, und dieses Knistern erinnerte an den Klang einer gebrauchten Vinylschallplatte. Doch statt das Gerät wegzuwerfen oder es zu reparieren begann Stefan Betke, gelernter Klavierspieler, genau hinzuhören: Mal schien sich aus dem Knistern ein Rhythmus herauszuschälen, dann war er wieder weg – verworfen durch einen Knackser zum falschen Zeitpunkt.
Wie so oft, wenn jemand den Zufall als Herausforderung begreift, begann auch Betke, aus seiner beiläufigen Entdeckung etwas Neues zu entwickeln. Er addierte das Knistern mit tiefen Bässen – Dub-Bässen, die eine eigene Melodie formten. All das verfugte Stefan Betke zu dem, was er „Glitch Electronica“ zu nennen und fortan unter seinem Projektnamen „Pole“ zu veröffentlichen begann.
Schon seit Jahren beschäftigt sich Betke mit den Kompositionen von Erik Satie, Arnold Schönberg und Steve Reich. Wer solche Musik liebt, mag keinen einzigen Ton, der überflüssig ist. Und so kürzte Stefan Betke weg, was ihm nicht gefiel, reduzierte, dampfte ein und destillierte. Den fertigen, ausnahmslos instrumentalen Stücken, einigen dutzend an der Zahl, gab er poetische Namen wie „Kirschenessen“, „Lachen“, „Fremd“ oder „Paula“: Das war seine Art, sie zu archivieren. Die Stücke erschienen 1998 auf seinem ersten Album, das er schlicht „1“ taufte. Auf seinen folgenden Veröffentlichungen, die er konsequenterweise „2“ und „3“ nannte, lauteten die Titel ähnlich lautmalerisch „Überfahrt“, „Fliegen“, „Streit“, „Huckepack“. Oder auch, etwas eigentümlicher, „Fohlenfurz“ .
Die ersten drei Alben von Pole sind monochrom einfarbig gehalten, in Dunkelblau, Rot und Gelb. Hat Musik eine Farbe? Betkes Antwort scheint Ja zu lauten, denn er achtete bei der Produktion der Cover auf kleinste Details der Farbnuancen; die Typografie musste in Glanzlack gedruckt werden, damit sie die Farbe nicht brach. Selbst die Innencover der Vinylhüllen mussten im gleichen Farbton gedruckt werden wie die äußere Hülle, ebenso die Etiketten der Schallplatten, so wollte es der Perfektionist, vor dem seinerzeit der Grafiker, die Druckerei und das Label gleichermaßen zitterten.
Rückblickend stellen die Farben wohl so etwas dar wie einen Meta-Archivierungs-Versuch – ganz so, wie sich auch die Titel weniger darauf beziehen, was der Hörer mit den jeweiligen Stücken assoziieren könnte, als vielmehr darauf, was Betke an flüchtigen Erinnerungen mit seinen Stücken verbindet. Seiner damaligen Plattenfirma zufolge zählten die Schallplattenhüllen von Pole zu den teuersten der Firmengeschichte.
Das erste Album aus dieser Reihe erschien 1998 und wurde von Betke mit seinen beiden folgenden Veröffentlichungen über den erstaunlich kurzen Zeitraum von zwei Jahren hinweg zu einer Trilogie der Farben vervollständigt, bestehend aus drei Doppelalben immerhin. War „1“ noch eine Studie über weiträumige Flächen gewesen, die ein Klang zu definieren vermag, so könnte man das rote Album mit seinen aus dem Nichts auftauchenden und im Nichts wieder verschwindenden Melodiefetzen als geradezu romantische Reminiszenz an Jamaika und die Dub-Musik, die von dort stammt, beschreiben. Unwichtig ist dabei, ob Betke jemals selbst dort gewesen ist. Schließlich schöpfen sich unsere Erinnerungen schon heute aus einem kollektiven Reservoir.
„3“ schließlich war ein Album, das sich dem Club näherte und auf absurde Weise geradezu als tanzbar bezeichnet werden könnte. Es erschien im Sommer 2000, zu einem Zeitpunkt, als Stefan Betke in England und in den USA bereits große Erfolge zu feiern begann. Von manchen Stimmen wurde er damals gar zum würdigen, lange erwarteten Nachfolger von John Cage, Kraftwerk oder wahlweise auch Lee Scratch Perry hochgejazzt. Am weitesten wagte sich die englische Musikzeitschrift Wire aus dem Fenster: Erst setzte sie Pole in einer ihrer Jahresbestenlisten auf Platz zwei, dann setzte sie kurze Zeit später mit einer großen Titelgeschichte über Stefan Betke nach.
Und dann? „Und dann waren meine Ideen erst einmal aufgebraucht“, stellt Betke heute nüchtern fest, während er in einem Straßencafé in Berlin-Prenzlauer Berg sitzt. Hier trifft sich der ehemalige Kölner, der sich vor einigen Jahren in Berlin niedergelassen hat, mit jenen Journalisten, die ihn zur Veröffentlichung seines neuen, vierten Albums sprechen wollen. Es ist eben erst erschienen und trägt nunmehr den Titel „Pole“.
Drei Jahre sind vergangen seit seinem letzten Album, dem gelben. Die Zeit überbrückte der einstige Free Jazzer und Vinyl-Cutter, indem er sein eigenes Label ~scape-records samt dessen weltweit beachteter Urban-Dub-Compilation-Reihe „Staedtizism“ an den Start brachte, einen neuen Vertrag beim Depeche-Mode-Hauslabel „Mute“ unterschrieb und in seinem eigenem Heimstudio unzählige Bands produzierte. Sein prominentester Klient war zuletzt Martin L. Gore, der Songschreiber von Depeche Mode, in dessen Auftrag Betke kürzlich eine Reihe von Depeche-Mode-Songs bearbeitet hat. Zudem ist Betke derzeit fast jedes Wochenende auf Konzertreisen unterwegs, in Städten wie Zagreb, Cannes oder New York. Sehr oft tritt Stefan Betke aber auch zu Hause in Berlin auf, im WMF-Club oder im Maria am Ufer, und meistens ist er dann nicht alleine. Auftritte von Pole in Berlin haben oft eine Art familiären Charakter: Freunde wie Gudrun Gut, Thomas Fehlmann, Jan Jelinek oder Betkes Lebensgefährtin Barbara Preisinger, Labelmanagerin von ~scape-records sowie Chefin eines PR-Büros für elektronische Avantgardemusik, flankieren seine energiegeladenen, in Echtzeit improvisierten Abenteuer in Dub.
Gerade wegen seiner vielfältigen Aktivitäten aber gestaltete sich die Neuorientierung als Musiker jedoch schwierig. „Ich musste erst einmal fertig werden mit der Erkenntnis, dass das Material, das für drei Alben gut gewesen ist, mit einem Mal aufgebraucht war. Dieses Material war ja in Jahren entstanden, nicht in Wochen“, erinnert sich Sefan Betke an die Zeit der künstlerischen Suche, die seiner Trilogie der Farben folgte. „Ich stand vor der Situation, dass ich Pole völlig neu definieren, neu erfinden musste. Denn die Sache mit dem defekten Filter, die war ja durch.“
Tatsächlich geht Pole als Musiker heute sehr neue Wege, die man von ihm nicht unbedingt erwartet hätte. Das merkt man allein schon daran, dass auf seinem neuen Album kein einziger Knackser zu hören ist. Ob „Pole“ später mal als ähnlicher Geniestreich in die Annalen eingehen wird wie die Vorgänger mit ihrem dreist auf Vinyl gepressten Knistern, wird die Zeit zeigen. Spannend aber ist es allemal.
Auf „Pole“ erforscht Stefan Betke jetzt neues Terrain, indem er Dub und HipHop kreuzt und sich dabei der Mitarbeit des Rappers „Fat Jon“ Marshalls bedient. Zuvor hatte Betke schon mit mehreren anderen Rappern die Zusammenarbeit gesucht. „Sehr gute Stücke“ seien dabei entstanden, bekundet Betke, dennoch endeten die meisten dieser Versuche in Zerwürfnissen. „Erst die Zusammenarbeit mit Fat Jon brachte die Wende“, findet er rückblickend. „Fat Jon hat erkannt, dass es mir um Zeit geht: um Millisekunden verzögerte Beats, die bisweilen wie ein hinkender Rhythmus wirken und doch genau am richtigen Punkt sitzen.“ Dann illustriert er die gelungene Symbiose mit einem Beispiel: Nach einem Treffen, bei dem die beiden die ganze Zeit nur geredet und geredet hätten, habe sich Marshall erst einmal für ein paar Tage verzogen. Dann sei er mit einem Text zurückgekommen, mit dem heute das Eröffnungsstück des Albums beginnt: „Slow Motion“.
Fat Jons Texte drehen sich meist um Fragen der eigenen Existenz. „Everything we do in this world and in this life / Everything we think, everything we feel, everything we write / Has a time code attached to it / Has days attached to it“, spricht der Rapper über die von Betke elegant hingebummsten Dub-HipHop-Grooves. Verglichen mit den vorherigen, stolz-distanzierten Alben zuvor ist das neue Set-up Poles heute jedoch geradezu zugänglich. Auf insgesamt vier Tracks rappt Fat Jon Marshall, und seltsamerweise wirkt das Repetetive seiner Worte – die Wortspiele, die Raps wohl haben müssen, weil sie sonst keine Raps mehr wären – manchmal etwas einengend. Zumindest verglichen mit der Freiheit, welche die Welt der Musik für jemanden bereithält, der sie herausfordert. So wie Betke es getan hat, als er auf dem Track „Bushes (There’s A Secret Behind)“ mit Thomas Haas’ Saxophon ein menschliches Element, sozusagen den humanen Faktor, in seine kühl-urbanen Soundscapes implantierte. Oder auf dem letzten Track „Back Home“, wo er dem Album mit einer Einspielung des Señor-Coconut-Bassisten August Engkilde einen äußerst versöhnlichen Abspann verpasste.
Wundert es Betke eigentlich, dass Musik wie die seine, die auf jede Verzierung und jedes barocke Ornament verzichtet, heute so viel Aufmerksamkeit zuteil wird? Dass so viel über sie geschrieben wird und man damit sogar Geld verdienen kann? Wundert es ihn, dass sich die heutigen Hörgewohnheiten in den letzten Jahren offenbar so sehr geändert haben? „Ich glaube, dass die Musik, wie ich sie mache, viel mehr Menschen hören würden, wenn es nur die Kanäle gäbe, damit man sie auch zu hören bekommt“, meint Betke dazu. In den meisten Radiosendern gilt Musik wie die von Pole, die diszipliniert und gewissermaßen streng daherkommt, noch immer meist nicht als sendefähig. Menschen aber, die genügend Zeit und Muße haben, sich mit solchen Sounds auseinander zu setzen, die verfallen ihnen auch. Und die werden immer mehr.
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