Dutroux-Urteile spalten Belgien

Der Dutroux-Prozess in Belgien endet so merkwürdig wie die gesamte Affäre immer war: Schuldspruch für Kindesentführer Dutroux, seine Frau und einen Komplizen – Freispruch für Geschäftspartner Nihoul, gegen die Mehrheitsmeinung der Jury

AUS BRÜSSEL FRANÇOIS MISSER

Es kam nicht als Überraschung, dass Marc Dutroux gestern vor dem Schwurgericht von Arlon des Mordes für schuldig befunden wurde. Die Geschworenen sahen es für erwiesen an, dass der Belgier seinen Komplizen Bernard Weinstein umbrachte und auch die vier Mädchen Julie, Melissa, An und Eefje. Zwei weitere belgische Mädchen, Savine und Laetitia, wurden entführt, gefangen gehalten und vergewaltigt. Die beiden hatten ebenso wie mehrere junge Tschechinnen während des dreieinhalbmonatigen Verfahrens gegen ihren Peiniger ausgesagt. Dutroux’ Ehefrau Michèle Martin wurde der Komplizenschaft bei der Gefangenhaltung der Mädchen für schuldig befunden; ein weiterer Komplize, Michel Lelièvre, war an mehreren Entführungen beteiligt und daher mitschuldig.

Dutroux war am 13. August 1996 verhaftet worden und führte die Polizei zu den Mädchen Sabine Dardenne und Laetitia Delhez, die in einem Kellerverlies in seinem Haus in einem Vorort von Charleroi eingesperrt waren, sowie zu den Leichen der 1995 von ihm entführten Mädchen Julie Lejeune, Melissa Russo, An Marchal und Eefje Lambrecks. Im April 1998 gelang ihm die Flucht aus dem Gefängnis; er wurde aber rasch wieder gefasst. Seit dem 1. März 2004 stand er vor Gericht. Sabine Dardenne und Laetitia Delhez überlebten ihre Entführung durch Dutroux und waren die Hauptbelastungszeugen gegen ihn.

Michèle Martin und Michel Lelièvre hatten die ihnen zur Last gelegten Taten anerkannt und gegen Dutroux ausgesagt, für sich selbst aber mildernde Umstände geltend gemacht – Drogensucht im Falle Lelièvres, psychologische Unterwerfung im Falle der Ehefrau. Der vierte Angeklagte, Michel Nihoul, ist glimpflich davongekommen: Mit sieben gegen fünf Geschworene befand nur eine knappe Mehrheit den Geschäftsmann für schuldig, eine kriminellen Vereinigung angeführt und bei der Entführung der kleinen Mädchen mitgewirkt zu haben. Die drei Berufsrichter am Schwurgericht zogen sich deshalb am Nachmittag erneut zurück und sprachen Nihoul dann aufgrund der Unschuldsvermutung in allen wesentlichen Punkten frei. Sie hielten nur den Vorwurf des Ecstasy-Handels aufrecht, der aber nichts mit den Kindesentführungen zu tun habe.

Die Uneinigkeit der Jury gegenüber Nihoul und der daraus resultierende, überraschende Freispruch reflektiert die Uneinigkeit der belgischen Gesellschaft zum Falle Dutroux insgesamt, die sich auch im Verhalten der Ermittler, der Untersuchungsrichter, der überlebenden Opfer, der Presse und der belgischen öffentlichen Meinung insgesamt manifestiert hat. Seit Beginn der Dutroux-Affäre war das Verfahren gegen den Kinderschänder auch ein Verfahren gegen die belgische Justiz im Allgemeinen. Zum Höhepunkt der Aufregung demonstrierten in Brüssel 300.000 Menschen gegen die katastrophalen Ermittlungsfehler im Falle Dutroux, es gab eine parlamentarische Untersuchungskommission. Zwei Thesen standen sich auch während des jetzt beendeten Prozesses unversöhnlich gegenüber: Dutroux als perverser Einzeltäter, Dutroux als Mitglied eines geheimen pädophilen Netzwerks um Nihoul.

Es ist nicht zu erwarten, dass die gestern erfolgten Urteile Belgien mit sich selbst und mit seiner Justiz versöhnen. Während des gesamten Prozesses warfen Hinterbliebene der toten Mädchen und ihre Anwälte dem Untersuchungsrichter Jacques Langlois vor, bewusst Spuren vernachlässigt zu haben, die das mutmaßliche pädophile Netzwerk hätten aufdecken können – ein Netzwerk, an dessen Existenz andere gar nicht erst glauben.