Unter Freibeutern
: Schuss vorn Bug

Zwischen die Fronten der Kulturhauptstadtkandidatinnen geraten ist der in Lübeck aufgewachsene Kristo Šagor. Der Dramatiker, der jüngst ein Referenzprojekt Braunschweigs durch einen Lessing-Monolog bereicherte, begleitet als Bordschreiber die Hansekogge, die Bremens Bewerbung nach Berlin schippert. In Wolfsburg enterten welfenfreundliche Piraten das Bremer Boot. Im Gewühle: der arme Poet.

Die Kogge fährt im Schnitt zwölf Stundenkilometer. Ganz hinten rechts ist ein Plumpsklo, das zur Erleichterung in Fluss oder Kanal einlädt, so weit ich weiß, bislang unbenutzt. Direkt daneben steht ein Tisch, an dem die anderen Laptopjunkies und ich die meiste Zeit verbringen. Im Hin und Her von Temperatur und Niederschlag bewährt sich das System Zwiebel: bei Sonne nur im Unterhemd, ohne Sonne plus T-Shirt, bei kräftigerem Wind plus Strickjacke und bei mehr als Nieselregen noch die wasserfeste Jacke. Apropos T-Shirt. Fast alle an Bord tragen das Hemd mit dem Logo der Bewerbung. Hochmütig prangt der Slogan „Kultur Hauptstadt Europas! 2010“, als sei die Entscheidung bereits gefallen. Das fordernde Ausrufezeichen dient als Feigenblatt der hoffnungsvollen Wirklichkeitsverdrehung.

Gestern hatten wir Besuch von 100 glaubhaft kostümierten Piraten, notwendig, um das Schiff mit ihrem Gewicht so weit abzusenken, dass wir durch die Schleuse Sülfeld passen. Sage und schreibe fünf Kamerateams dokumentieren das Geschehen. Die Enteraktion mündet in Partystimmung. Backbord fahren acht Fahrräder mit, steuerbord sind es drei, die Fahrer winken. Eine Hummel verwechselt das Rüschenhemd einer tanzenden Piratin mit einer Blüte. Die Mitglieder des Tanzenden Theaters gröhlen konsumbewusst „Wir haben Hunger, Hunger, Hunger usw.“ Die zweite Strophe kennt dann – leidiges Problem zweiter Strophen – schon niemand mehr. Später, als die Schokolade verteilt und das Bier ausgeschenkt ist, singen die tanzenden Piraten Hits wie „Let me entertain you“ ohne Textprobleme. Höhepunkt ist die Schleusung selbst. Ich sitze geduckt oben auf dem Kastelldeck, und der verwitterte Gussbeton des Schleusentores schwebt nur 15 Zentimeter über meinem Kopf hinweg. Nach vollzogenem Anlegemanöver in Wolfsburg genau gegenüber der Autostadt wechseln sich Wolfsburger Begrüßungs- und Bremer Dankesreden ab.

Auf beiden Seiten wird auf milde Weise der Konkurrenzsituation eingeheizt. OB Schnellecke spricht mit humorig altertümlichem Duktus von landeshoheitlichen Rechten und den Bremer Frevlern, deren Bewerbung „in Berliner Gewässern untergehen“ möge, hier in Wolfsburg gebe es nur den „Schuss vor den Bug“. Die Bremer Erwiderungen klingen eitler, die scherzhafte Brechung fehlt. Dafür spricht Kerstin Kiesler die Zuhörer emanzipatorisch mit „liebe Enterer und Enterinnen“ an. Kristo Šagor