Am Ufer des geschrumpften Sees

aus Kasachdaria PETER BÖHM

Über Kasachdarias heiße und sandige Feldwege wirbelt ein Staubteufel, ein Miniaturwirbelsturm, der den trockenen Staub in die Höhe reißt. Struppige Hunde und schmutzige Kinder lungern zwischen den flachen, einstöckigen Bauten herum. Einige der Häuser haben Dächer aus Wellblech, viele sind einfach mit Schilf gedeckt. Auch die schiefen Zäune vor den Häusern sind häufig aus Schilf hergestellt – der ganze Ort wirkt wie schnell abbaubar, um an anderer Stelle wieder aufgebaut zu werden. Aber vor allem scheint hier ein Gut rar, das man in einer Lagunenstadt bestimmt erwarten würde: Wasser. Vielmehr blickt man am Ortsrand in Richtung des flachen, endlos erscheinenden Horizonts. Mehr als einhundert Kilometer weit gibt es keine menschliche Siedlung.

Noch vor 40 Jahren verdiente Kasachadaria den schmeichelhaften Beinamen „östliches Venedig“. Seitdem hat der Ort eine radikale Wandlung durchgemacht. Bis Mitte der Sechzigerjahre lag die Ortschaft in der autonomen Republik Karakalpakstan, im Norden Usbekistans, noch am Ufer des Aralsees, des viertgrößten Binnengewässers der Welt. Aber inzwischen ist das heute 4.000 Einwohner zählende Städtchen eigentlich nur noch eins: ein Ort, an dessen Niedergang man die Ausmaße einer der größten Umweltkatastrophen der Welt studieren muss.

Der See ernährte einst 600 Fischer

Zu seiner Blütezeit hatte Kasachdaria 14.000 Einwohner und beherbergte oft noch ebenso viele Gäste. Hier hatten viele Sowjetfunktionäre ihre Datscha, kamen viele Urlauber in die Kurhotels. „Kasachdaria war eine der reichsten Städte der gesamten Gegend“, erzählt der 76-jährige Kudscherbai Berdiarow, einer der wenigen hier, die sich noch an diese Zeit erinnern können. 600 Fischer fuhren jeden Tag hinaus, er selbst arbeitete in der Fischkonservenfabrik. Alles hing am Wasser des Aralsees, und als das zurückging, verließen nach und nach die Leute ihre Stadt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gingen viele ins nahe gelegene Kasachstan, das seitdem einen Ölboom erlebt. Diejenigen, die geblieben sind, rissen die größeren Gebäude ein und verkauften alles, was sich zu Geld machen ließ.

Heute liegt das Ufer des Aralsees, der auf ein Viertel seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft ist, 130 Kilometer nördlich von Kaschachdaria. Aber das ist nicht das Schlimmste. Denn eigentlich ist durch die Folgen der intensiven Landwirtschaft die gesamte Aralseeregion unbewohnbar geworden, müssten, zumindest nach westlichen Standards, die 1,5 Millionen Einwohner Karakalpakstans evakuiert werden. Der Salzgehalt in dem verbliebenen See, obwohl eigentlich mit Süßwasser gefüllt, ist an manchen Stellen so hoch wie in den Weltmeeren. Die Fische und alles übrige Leben darin sind längst gestorben. Der Salzgehalt im Boden und im Grundwasser ist so hoch, dass dort nur noch speziell gezüchtete salzresistente Kulturpflanzen wachsen.

Das Klima der gesamten Region hat sich verändert. Kasachdaria ist einer der wenigen Orte der Welt, an denen es Jahrestemperaturunterschiede von 100 °C gibt – im Sommer bis zu 60 °C in der Sonne, denn Bäume, die Schatten spenden, gibt es ohnehin nicht. Und im Winter –40 °C. Vor allem in Frühjahr und Herbst fegen Stürme über die Steppe und blasen den toxischen, mit Pflanzenschutz-, Dünge- und Entlaubungsmitteln angereicherten Sand des ausgetrockneten Seebodens in die Atmosphäre. Nach Schätzungen des UNO-Umweltprogrammes (Unep) sind das 150 Millionen Tonnen jährlich, die in kleinen Konzentrationen noch in 6.000 Kilometer Entfernung, in Ägypten oder Vietnam zum Beispiel, nachgewiesen werden können.

In mehreren Studien stellten Wissenschaftler eine enorme Umweltbelastung der Region fest. Nach einer Untersuchung des karakalpakischen Gesundheitsministeriums lag die Konzentration von Dioxin in Blut und Muttermilch werdender Mütter beim Fünffachen westeuropäischer Vergleichswerte. In Wurzelgemüse fanden sie die 12fache Konzentration von DDT. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wies in vielen Nahrungsmitteln „signifikante Rückstände“ von DDT, dem Entlaubungsmittel Agent Orange und von Dioxinen nach, deren Menge die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) um ein Vielfaches überstieg.

Das alles ist eine Folge des intensiven Reis- und Baumwollanbaus vor allem in Usbekistan und Turkmenistan. Schon seit den Dreißigerjahren begann die Sowjetunion, dort an den Unterläufen des Syr Darija und des Amu Darija weite Flächen, zum Teil in der Wüste, künstlich zu bewässern. Rund 700.000 Kilometer Bewässerungskanäle wurden gebaut, und das belastete Abwasser aus den Feldern wurde wieder in die beiden großen Flüsse Zentralasiens geleitet. So wurde der Aralsee, der ausschließlich von Amu und Syr Darija gespeist wird, zur Kloake der Region, und da bei ihm immer weniger Wasser ankam, begann der See, der ursprünglich fast so groß war wie Irland, seit Beginn der Sechzigerjahre zu schrumpfen.

Viele sind zuständig, keiner tut etwas

Erst durch die so genannte Aral-88-Expedition jedoch, als eine von zwei Moskauer Zeitschriften bezahlte Gruppe von Wissenschaftlern und Journalisten die Aralseeregion besuchte, erfuhr die Welt vom wirklichen Ausmaß der ökologischen Katastrophe. Danach erarbeiteten die Sowjetbehörden zusammen mit der Unep einen langfristigen Plan zur Rettung des Sees. Er sah die Reduzierung des Baumwollanbaus vor, die Renovierung der Bewässerungskanäle und die Bepflanzung der ausgetrockneten Flächen. Im Jahr 1990 floss erstmals wieder mehr Wasser in den See, aber durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ein Jahr später war der Plan schon wieder hinfällig. Von nun an waren die fünf unabhängig gewordenen zentralasiatischen Teilrepubliken für das Management der Zuflüsse des Sees zuständig. Und wohl an keiner Hinterlassenschaft wie am Verschwinden des Aralsees hat sich so deutlich gezeigt, dass die Stiefel, die sie von der Sowjetunion geerbt haben, für die Nachfolgestaaten ziemlich groß sind.

Zum Thema Aralsee haben seitdem über 1.400 Expertenkonferenzen stattgefunden, über 1 Milliarde Euro wurde dafür ausgegeben – aber er geht unvermindert zügig weiter zurück. Dabei würde nach übereinstimmender Expertenmeinung das Wasser von Syr und Amu Darija eigentlich für die intensive Landwirtschaft der gesamten Region ausreichen, ohne dass der See verschwinden müsste. Denn die Hälfte des Wassers aus beiden Flüssen kommt erst gar nicht bei den Baumwollpflanzen an, weil der Verlust in den lecken Bewässerungskanälen dorthin so hoch ist. Usbekistan, das den Löwenanteil des Wassers der Region verbraucht, kann es sich nicht leisten, die Kanäle zu reparieren. Es müsste stattdessen weniger Baumwolle oder andere, weniger durstige Pflanzenarten anbauen. Die jährliche Baumwollernte bringt dem Land jedoch 40 Prozent der dringend benötigten Deviseneinnahmen.

Oder aber die Regierungen der Region müssten versuchen, die Verschwendung an anderer Stelle zu verringern. Hilfreich wäre sicher, wenn die Leute einen vernünftigen Preis für ihr Wasser bezahlen müssten. In Turkmenistan ist es noch immer wie zu Sowjetzeiten für alle kostenlos. Und die Wasserrechnung des Berichterstatters in der usbekischen Hauptstadt Taschkent für die gesamte erste Jahreshälfte von 2003 betrug umgerechnet 1,35 Euro. Wenn die usbekischen Kollektivfarmen, die Baumwolle anbauen, überhaupt für ihr Wasser bezahlen, dann 0,01 Cent pro Kubikmeter.

Die Beamten haben keine Zeit

Was sagt die usbekische Regierung dazu? In den vergangenen zwei Jahren hat sie versucht, für das so genannte Flussumleitungsschema zu werben. Es wurde von Sowjetplanern ausgedacht und erst 1986 aus Kostengründen und wegen der unabsehbaren Folgen für die Umwelt wieder abgeblasen. Es sieht einen über 2.500 Kilometer langen Kanal vom sibirischen Ob nach Zentralasien vor. Um bis zu 7 Prozent seines Wasser auf die 100 Meter höher liegende Steppe umzuleiten, müssten gigantische Pumpwerke gebaut werden. Geschätzte Kosten: 30 Milliarden Euro. Die jedoch keine internationale Organisation bezahlen wird, solange mit dem in Zentralasien zur Verfügung stehenden Wasser so verschwenderisch umgegangen wird.

Für ein Interview standen die Verantwortlichen nicht zur Verfügung. Zunächst sagte ein Sprecher des zuständigen Landwirtschaftsministeriums noch, der Minister und sein Stellvertreter hätten keine Zeit. Dann, als das unglaubwürdig geworden war, versprach er einen Interviewtermin mit einem hochrangigen Beamten. Aber als es so weit war, verließen rechtzeitig vor dem Termin alle Beteiligten vorsichtshalber das Büro.

Für das Überleben des nördlichen Teilsees auf der kasachischen Seite der Grenze stehen die Chancen etwas besser. Im vergangenen Dezember begannen dort die Bauarbeiten für einen Damm, der das Wasser des Syr Darija gänzlich in den viel kleineren nördlichen See umleiten wird. Drei Viertel der 85 Millionen betragenden Baukosten werden durch einen Kredit der Weltbank gedeckt. Wahrscheinlich kann der See damit auf Dauer gerettet werden. Der größere, südliche Teil des Sees dagegen wird voraussichtlich in 20 Jahren bis auf ein paar kleine Seen im Delta des Amu Darija gänzlich verschwunden sein.