Reliquien der Verweigerung

Die NGBK-Ausstellung „Lieber zu viel als zu wenig“ geht im Westberlin der 80er auf Spurensuche

von HARALD FRICKE

Manche Dinge wären damals nicht gegangen. Badelatschen zum Beispiel. Auch weiße Polohemden und Rucksäcke. Oder Kinder, ganz bestimmt. Vor allem aber die vielen Bärte, die kurzen Hosen und Sandalen, die überall zur Eröffnung im Hof der NGBK herumstehen. Damit wärst du früher standrechtlich erschossen worden, wie eine Freundin gerne sagte, die anfang der Achtzigerjahre einen existenzialistischen russischen Namen trug, auf billigen Synthies steifen Minimal Pop machte und heutzutage nicht schlecht von ihrer Arbeit als Sängerin für Londoner und New Yorker House-Produzenten lebt.

Durch Dilettantismus zum Erfolg, das gilt für die meisten Beteiligten der Ausstellung „Lieber zu viel als zu wenig“. Fanzine-Schreiber haben mittlerweile Jobs an der Uni; die wilden Maler vom Moritzplatz hängen in den Musterwohnungen von Möbel Höffner; und aus Jörg Buttgereit, dem Arschlappen-Punk mit der Super-8-Kamera, ist ein Spezialist für die Kulturgeschichte des Horrorfilms geworden. Martin Kippenberger starb, sechs Jahre bevor er nun in Venedig auf der Biennale als Vater der neuen deutschen Kunst gefeiert wird. Und die Einstürzenden Neubauten? Sollen am Abend der NGBK-Eröffnung angeblich im Big Eden gespielt haben, als Erinnerung an den Hedonismus von einst.

Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, wie viel Verweigerung im Spiel war zwischen 1976 und 1985. Überall ging es um eine Leere, in der man nach Gemeinsamkeiten bei denen suchte, die sich ebenfalls an den vielen ewig gleichen Zeichen blind und blöd gesehen hatten. Immer wieder Currywurst, Dosenbier, Einsatzwagen, Hundertschaften – das sind die monotonen Fetzen, aus denen sich das Westberlin der Hausbesetzer und Lederjackenguerillas seine Zugehörigkeiten konstruiert. Thomas Roesler pinkelt in einem wackligen Performance-Film auf ein Stück Kuchen, schlingt es runter und grinst in die Kamera. Der Spaß an der Übertretung lebt vom Augenblick und von der Intimität zwischen Roesler und dem Gegenüber, das ihn bei seiner Aktion filmt. Ohne diese Verschworenheit bleibt für das Publikum, das jetzt in einer Black Box zuschauen darf, nur ein Jungsstreich, bei dem man an Exhibitionisten denkt, die auf RTL ihren Schwanz zeigen, damit sie sich mit ihrem Schwanz nicht so allein gelassen fühlen müssen.

Überhaupt ist das Maß der Dinge nicht ihre vereinheitlichende Oberfläche, sondern die Sehnsucht nach einer Öffentlichkeit, die sich aus lauter Eigensinnigen rekrutiert. So lebe ich, so leiden wir, diese beiden Sätze hängen untrennbar zusammen zu Beginn der Achtzigerjahre. Was fehlt, ist eine Sprache, die Solidarität schafft, ohne von den herrschenden Verhältnissen kontaminiert zu sein. Lummer, Schmidt, Honecker, auch die RAF tötet. Man ist dabei, weil man dagegen ist – zur Not auch gegen die anderen, die dabei sind. Für dieses quere Wunschdenken, das sich seine Autonomie durch permanenten Selbstwiderspruch sichert, hätten der Ausstellung mehr Dokumente und mehr Theorie gut getan. Schließlich war 1977 Jean-François Lyotards Verweigerungsbibel „Das Patchwork der Minderheiten“ bereits im Merve Verlag erschienen.

Stattdessen haben die Veranstalter von „Lieber zu viel als zu wenig“ eine Disko-Kammer gebaut, in der man zu DAF oder Wirtschaftswunder zwischen schallgedämmten Wänden Pogo tanzen kann wie in einer Gummizelle. In zwei weiteren Räumen werden auf Video kopierte Super-8-Aufnahmen gezeigt, denen man anmerkt, wie viel Mühe das Stahlbad des No-Fun kostete: Flimmernde Tristesse aus Großstadtlichtern, die durch Autobahntunnel rasen und sich in Waschsalons mit den Neonröhren an der Decke vereinen. Danach geht es zurück in die Nacht, zu Bullen und Buletten. Irgendwo quäkt ein Saxofon, piepst ein Keyboard, trappeln ein paar Trommeln durchs Geschehen – wenn man solche Filme 1980/81 in Kiel auf Festivals sah, wollte man unbedingt nach Berlin ziehen; war man in Berlin, ging man dann nicht mehr hin, wenn irgendwo getrommelt wurde.

Auch in der NGBK scheint die Vergangenheit mit all ihren Mythen für die Gegenwart verloren zu sein. Nirgends führt der Weg vom SO 36 zum Tresor, werden Parallelen zwischen No-Wave-Ästhetik und den Anfängen von Techno gezogen. Deshalb bleibt es ein Rätsel, warum ausgerechnet die frühere Dunkel-Boheme maßgeblich an der ravenden Love-Parade-Gesellschaft mitgewirkt hat.

Vielleicht liegt das Problem der Ausstellung an zu viel Ehrfurcht vor dem Gestern. So ist die Miniplattenbox der Tödlichen Doris als Reliquie unter Glas aufbewahrt – ein Sammlerstück, das nichts von der seltsamen „Chöre&Soli“-Musik vermittelt, die da eingekapselt in der Vitrine liegt. Auch die anderen Exponate markieren von weit her eine Zeit, deren sperrige Souvenirs sich nicht wirklich ins stulpenbunte Eighties-Revival fügen.

Da ist zum Beispiel Bernd Zimmer, der ein 27 Meter langes Bild in den Raum gehängt hat, das die Ausstellung dominiert. Kein Meisterwerk, sondern bloß das Produkt einer Nacht im SO 36, als Zimmer vor über 20 Jahren wie im Wahn eine Dekoration für ein Konzert am kommenden Tag fertig malen musste. Seine U-Bahn-Landschaft ist plakativ, auf Geschwindigkeit angelegt. Als die Band wegen Krankheit ausfiel, wurde eben unentwegt Lou Reeds „Metal Machine Music“ gespielt.

Bei solchen Legenden hätte der Ausstellung ein Ortswechsel ins SO 36 geholfen, schon der Authentizität wegen. Aber dort wird renoviert, sodass die Punkfeste auch am 11. August, zum 25. Geburtstag, geschlossen ist. Das nennt man wohl Verweigerung.

Bis 5. 9. im NGBK, täglich 12–18.30 Uhr; Oranienstraße 25; Katalog 16 €