Hegel im Angriff auf Kant

Der friedliebende Teil Europas und die Vereinigten Staaten: Die Angst vor dem Zerfall des Völkerrechts ist nicht groß genug, um die Gefahr einer Weltdespotie zu riskieren

Das Zauberwort lautet „Balance“. Doch das verlangt gleiche Stärkeauf beiden Seiten

Wie hast du’s mit Amerika? ist die Gretchenfrage der Gegenwart. Aus der Unsicherheit über diese Frage folgt alle übrige Unsicherheit in den außenpolitischen Stellungnahmen. Denn nur scheinbar hat die kritische Intelligenz Boden unter den Füßen. Niemand möchte sich durch die Haltung, die er jetzt einnimmt, irgendwann in isolierter Lage wiederfinden. Jeder will letzten Endes auf der Siegerseite stehen. Wird Amerika siegen? – das weiß zur Zeit niemand.

Bis zum vorigen Jahr – bis sich die deutsche Außenpolitik überraschend gegen die USA gewandt hat – gab es in der Presse kaum eine Stimme, die gegen die notorische Auflösung des Völkerrechts protestiert hätte. Der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Serbiens, die den Präzedenzfall bildete, stimmten alle – auch Habermas, wenn auch „mit Bauchschmerzen“ – zu. Die Tatsache, dass der Out-of-area-Beschluss der Nato die zentrale Funktion der UNO aushebelte, störte die Intellektuellen genauso wenig wie Kofi Annan, der daran auch keinen Anstoß nahm. Die Kriegshetze, in die sich die exaltierte Trauer um die Toten des 11. September verwandelte, beunruhigte die öffentliche Meinung nicht, und der war against terror fand ihre Unterstützung, ohne dass sie nach dem Völkerrecht fragte.

Nur die Demoskopie zeigte, dass eine Mehrheit in der Bevölkerung anderer Ansicht war. Die deutsche Politik reagierte kurz vor der Wahl – und Frankreich schloss sich an. Erst seit diesem Zeitpunkt trauen sich die Völkerrechtler und Politologen mit USA-kritischen Stellungnahmen hervor. Erst seitdem wagen sie, das böse Wort „Angriffskrieg“ in den Mund zu nehmen. Arm in Arm mit Frankreich wird Europa – jedenfalls ein Teil davon – zur friedliebenden Bastion gegen Amerika erklärt.

Die Äußerungen sind aber ganz vorsichtig. Die scheinbare europäische Gegenposition wird so schwach konturiert, dass sie sich schnell wieder auflösen lässt. Niemand hat zu der scheinbar eingenommenen Bastion des europäischen Geistes wirklich Zutrauen. Denn keineswegs wird eine Gegnerschaft zu den Vereinigten Staaten angestrebt. Das Zauberwort ist „Balance“. Das klingt feinfühlig, harmonisch. Dass Balance erst das Ergebnis eines gleich starken Gegengewicht ist, wird übersehen. Die Politologen schwächen das Wort ab und sprechen von „kooperativem“ oder „integrativem“ Gegengewicht – und nehmen ihren Aussagen durch eine solche Contradictio in Adjecto jeden Sinn.

Tatsächlich versteht man unter einer „Balance of Power“ die Ausgeglichenheit der militärischen Schlagkraft. Angesichts der heutigen Vernichtungskapazitäten müsste sie in einem neuen Gleichgewicht des Schreckens bestehen – im Zustand, der im Kalten Krieg MAD genannt wurde, mutual assured destruction, gegenseitig zugesicherte Vernichtung. Das will man natürlich nicht. Es geht nicht um Gewalt. Der europäische Geist soll die Macht der Materie ausgleichen – so hoch will man hinaus.

Wohlan denn! Ein solcher Geist müsste groß sein fürwahr. Man meint, ihn von Immanuel Kant beziehen zu können. Derrida und Habermas haben sich in ihrer gemeinsamen Erklärung beide auf ihn gestützt. Wie gut, dass seine Texte so schwer verständlich ist! Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Kant kein konsistentes Konzept vom „Ewigen Frieden“ vorgelegt hat. Es gibt in der Frage der richtigen Völkerordnung keinen Standpunkt, der sich nicht auf Immanuel Kant stützen könnte. Nicht nur hat Kant seine Meinung zwischen 1786 und 1797 verschiedentlich geändert; da er staats- und völkerrechtlich im Grunde uninteressiert war, finden sich auch in seinen einzelnen Schriften widersprechende Positionen. In dem von Kant konzipierten Staatenbund sollen die Völker zugunsten des Weltfriedens zwar ihre Souveränität verlieren, sie zugunsten ihres fröhlichen Wettstreits aber behalten, soll der Krieg wegen seiner verheerenden Wirkungen untersagt und wegen seiner belebenden Wirkungen erlaubt sein. Selbst die gegenwärtige US-Außenpolitik könnte sich auf eine Äußerung Kants stützen. In der Praxis, so sagt er resigniert im Anhang zum „Ewigen Frieden“, könne eine Welt-Friedensordnung ihren Anfang nur finden durch „Gewalt, auf welche nachher das öffentliche Recht gegründet wird“.

Soweit sie sich auf einen Nenner bringen lässt, ist Kants Vorstellung vom „Ewigen Frieden“ in der bisherigen UN-Verfassung bereits verwirklicht. Der Krieg ist geächtet, ohne dass sich diese Ächtung praktisch durchsetzen lässt. Was meinte Derrida, als er jetzt „eine effektive Veränderung des internationalen Rechts“ forderte „in einem Geist, der auf die kantische Tradition verweist“? Kants Weltföderation war bewusst und gewollt ineffektiv, weil er unter allen Umständen „das Grab der allgemeinen Alleinherrschaft“ vermeiden wollte . Eine effektive Veränderung des UN-Rechts könnte nur in dem Wegfall des Veto-Rechts und der Einrichtung einer Welt-Exekutive bestehen. Durch eine solche Reform würde der UN-Sicherheitsrat aber ein Gremium, das stärker wäre als die stärkste Macht der Welt. Der Weltstaat wäre geschaffen – in Kants Worten „das Grab der allgemeinen Alleinherrschaft, darin alle Freiheit und mit ihr alle Tugend, Geschmack und Wissenschaft erlöschen müsste“.

Mit Recht wandte sich Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ deshalb scharf gegen Kants Konzept. Es sei wirklichkeitsfremd, weil es eine Struktur voraussetze, die Kant selbst ablehnt; es setze voraus, dass die Rechte der Staaten „ihre Wirklichkeit in einem allgemeinen, zur Macht über sie konstituierten Willen“ haben. Eine solcher mächtiger Wille werde aber nicht eingesetzt, und die von Kant vorausgesetzte Einstimmigkeit des Völkerwillens träte nur zufällig, nicht aber mit der Notwendigkeit ein.

Hegel hatte es leicht, gegen Kant zu polemisieren. Denn er wollte den Krieg gar nicht abschaffen. Für ihn hatte er die höhere Bedeutung, dass er „die sittliche Gesundheit der Völker […] erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede versetzen würde“.

Niemand traut der Bastion des europäischen Geistes. Keiner will Gegnerder USA sein

Wenn dieser Standpunkt jemals richtig war, so ist er heute angesichts der Massenvernichtungsmittel nicht mehr haltbar. Dennoch will niemand eine effektive, mit den nötigen Vollmachten und Machtmitteln ausgestattete Weltinnenpolitik riskieren. Sie wird – mit Kant – als Weltdespotie gefürchtet. Niemand nimmt den Hobbes’schen Standpunkt ein, auf dem die Menschen aus Angst dazu getrieben werden, sich einem souveränen Welt-Leviathan unterzuordnen. Die Angst ist nicht groß genug.

Vielleicht tut man gut daran. Ob aber das kantische Konzept, das bereits in UNO und Völkerbund gescheitert ist, geeignet ist, Europa eine Identität zu geben, die der US-Machtpolitik ein wirksames Gegengewicht entgegen stellt? Tatsächlich ist es doch wohl eher dazu geeignet, dem gegenwärtigen politischen Eiertanz ein gutes Ansehen zu geben.

SIBYLLE TÖNNIES