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: HELMUT HÖGE über den Wilden Osten

Zehn Jahre Bischofferode-Niederlage

„Die Arbeitslosigkeit geht durchs Land als ein neues Regime der Furcht, das keine Stasi braucht, um die Menschen einzuschüchtern“, schrieb Heiner Müller. Doch die Kalibergarbeiter in Bischofferode (Thüringen) kämpften dann vor mittlerweile zehn Jahren gegen die Schließung ihrer Grube gerade aus Furcht vor Arbeitslosigkeit – und „es wurde der härteste Arbeitskampf, den das Land je erlebt hat“, daraus, wie das Wochenmagazin Freitag schreibt.

Er gipfelte schließlich in einem Hungerstreik, einem Besuch beim Papst und einem Marsch nach Berlin vor die Treuhandanstalt. Die mitkämpfende evangelische Pastorin Haas – von Günter Grass in seinem Treuhand-Roman „Ein weites Feld“ als Vikar Konrad verewigt – resümierte 1994: „Während der ganzen Auseinandersetzungen, so anstrengend sie waren, ging es fast allen gut, danach fiel alles auseinander. Viele wurden krank, vier starben sogar.“ Zuletzt wurden alle 700 Kumpel bis auf 70, die man (bis heute) mit Verfüllungsaufgaben beschäftigte, entlassen, die Grube wurde geschlossen. Zuvor hatte der für den Kalibereich verantwortliche Treuhand-Manager Klaus Schucht im Spiegel erklärt: Der Bischofferöder Kampf hat „eine gewaltige Wirkung auch auf Betriebe im Westen“. Wenn man den nicht bricht, „wie will man dann noch Veränderungen bei den Arbeitsplätzen durchsetzen?!“

Zum Brechen wurden nicht nur Zivilpolizisten als Provokateure eingesetzt und die völlig korrupten Führer der Gewerkschaften IG Bergbau und Energie sowie IG Chemie mobilisiert, es kamen auch Politiker aller Couleur nach Bischofferode, die völlig haltlos und verlogen „große Investitionen“, „neue Arbeitsplätze“ usw. versprachen. Und es rückten westdeutsche Dumpfjournalisten en masse an, die hernach – wie z. B. Henryk M. Broder – schrieben: Man hätte den Kalikumpeln sagen müssen, dass es „für eine Arbeit, bei der Produkte hergestellt werden, die niemand kaufen will, kein Naturrecht gibt“.

In Wahrheit verhielt es sich genau andersrum – wie dann Gregor Gysi im Neuen Deutschland als Einziger richtig stellte: Das Bischofferöder Kali war von der Art, dass kanadische Fabriken daraus mit einem billigeren als dem bei der BASF Kali&Salz AG üblichen Verfahren Dünger herstellen konnten – und wollten. Letztere hatten jedoch die ostdeutschen Gruben von der Treuhand zugeschanzt bekommen – um sie sogleich zu schließen und sich damit einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, wozu sie auch noch einen „Verlustausgleich“ in Höhe von 1,04 Milliarden Mark einstrichen.

Auf diesen Umstand hatte auch schon – im April 1993 – der Kalikartell-Experte der Bremer Universität, Peter Arnold, in einem Flugblatt hingewiesen, das er in Bischofferode verteilte. Mit der Spätschicht gelangte es unter Tage, wo es quasi sofort den Arbeitskampf auslöste, der Ende 1993 endete.

Im Übrigen hatte bereits der Ministerialdirektor Dr. Friedrich Ernst in seinem 1961 fertig gestellten Katalog für „wirtschaftliche Sofortmaßnahmen bei der Wiedervereinigung“, der 1989 der Treuhandanstalt als „Masterplan“ diente, empfohlen, alle DDR-Kaligruben zu schließen, da sich sonst „Überkapazitäten für Gesamtdeutschland“ ergeben würden. Der einst unter Göring für die Ausplünderung der Sowjetunion verantwortlich gewesene Jurist hatte also bereits 1959 Bischofferode zur Abwicklung vorgesehen.

Als es dann nach 1989 endlich so weit war, geriet die Niederschlagung des dortigen Arbeitskampfs durch die westdeutsche Politik, die dabei zwischen verlogenen Versprechungen und dumpfen Drohungen pendelte, zur Ouvertüre ihres neuen ökonomischen Kurses. Dabei spielten auch die westdeutschen 68er, die inzwischen an ostdeutsche Universitäten gewechselt waren, noch einmal eine Rolle, wie der Leipziger Transformationsforscher Peer Pasternack 1993 in Berlin ausführte: Mit „Bischofferode im Rücken“ akquirierten sie z. B. erfolgreich „Drittmittel“ für die „Politikberatung“, wobei es u. a. um „Aufruhrprävention bei Betriebsschließungen“ ging.

Am Ende des verlorenen Arbeitskampfes erwarben die Eichsfelder Kumpel mit ihren Soligeldern (allein 500.000 Mark waren über den Verkauf ihrer „Bischofferode ist überall“-T-Shirts reingekommen) die überflüssig gewordene Poliklinik der Kaligrube „Thomas Müntzer“ und bauten sie mit ABM-Geldern zu ihrem Vereinsheim aus.

Der streikführende Betriebsratsvorsitzende Gerhard Jütemann ging derweil für die PDS in den Bundestag. 2002 zog er sich jedoch aus der Politik zurück, um sich fortan wieder auf Bischofferode zu konzentrieren, wo er jetzt Tauben züchtet. Einige andere Mitkämpfer züchten Pferde bzw. Rinder.