Im Stringtanga am Ballermann

Mit gewöhnungsbedürftigen Methoden und tiefen Griffen in die Psychokiste hat DSV-Sportdirektor Ralf Beckmann aus einem Haufen Egoisten ein Team geformt. Bei der Schwimm-WM in Barcelona soll sich dies erstmals in Medaillen niederschlagen

aus Barcelona JÜRGEN ROOS

Appell im Mannschaftshotel ist täglich um 15.30 Uhr. Und zwar pünktlich. 16 Schwimmer und 14 Schwimmerinnen wackeln dann in den Konferenzraum des Hotels Melia Confort Apolo, wo es von Sportdirektor Ralf Beckmann etwas auf die Ohren gibt. „Klartext“ heißt diese Besprechung bei der WM in Barcelona plakativ – und sie soll vor allem eines: den Teamgeist stärken. Gestern zum Beispiel wird Beckmann den goldenen Start von Hannah Stockbauer über die 400 Meter Freistil gepriesen haben. Wohl nicht ohne die Hoffnung, dass sich die übrigen Athleten des Deutschen Schwimm-Verbandes (DSV) ein Beispiel nehmen. Manfred Thiesmann, der Bundestrainer, spricht sogar von einer „Botschaft“, die die 21-jährige Erlangenerin mit ihrem starken ersten Rennen ausgesandt habe. „Wir machen diese Erfahrung immer wieder“, sagt Thiesmann: „Wenn die Leitwölfe vorneweg versagen, haben alle anderen auch Angst.“ Dann kann es schon mal zu einem Untergang kommen wie bei den Olympischen Spielen 2000 in Sydney, als der DSV gerade mal drei Bronzemedaillen holte.

Die Zeiten sind vorbei, seit Ralf Beckmann der Herr der Lagen ist. Der Wuppertaler mit den silbernen Haaren hat es geschafft, aus schwimmenden Einzelkämpfern ein Team zu bilden. Und er macht überhaupt kein Geheimnis daraus, dass er dazu bisweilen ganz tief in die psychologische Trickkiste greift. Aus dem WM-Becken der japanischen Stadt Fukuoka, wo das deutsche Schwimmen vor zwei Jahren eine unerwartete Renaissance erlebt hatte, brachte Beckmann Wasser in einem Fläschchen mit. Hernach gab er die Formel BMW aus, die sich aus den englischen Wörtern burn, move und win zusammensetzt – brennen, bewegen, gewinnen. „Ich sehe das als kompakte Zusammenfassung dessen, was jeder bringen muss“, sagt der 56-Jährige. Irgendwie klingt das ganze wie aus dem Managertraining.

Bei jungen Sportlerinnen wie Hannah Stockbauer stößt der deutsche Teamchef mit solch griffigen Slogans auf offene Ohren: Nach der enttäuschenden EM vergangenes Jahr in Berlin verbrannte die Freistilspezialistin mehr als drei Kilo ihres Körpergewichts, bewegte sich danach im Training auf selten hohem Niveau – und jetzt gewann sie in Barcelona gleich das erste Finale, das ein deutscher Athlet bestritt. „Sehr gut, Hannah!“, rief Beckmann Stockbauer zu, nachdem die sich gestern gleich noch locker und leicht für das 1.500-Meter-Finale qualifiziert hatte. Experten gehen davon aus, dass sich Hannah Stockbauer in diesem Rennen heute die zweite Goldmedaille aus dem Becken des Palau Sant Jordi fischen wird.

Das öffentliche Interesse an der 21-Jährigen war schon nach dem ersten Gold sprunghaft angestiegen und wird wohl über diese WM-Tage ähnliche Ausmaße annehmen wie der Rummel um Franziska van Almsick, die bei der EM 2002 mit fünf Titeln ein unglaubliches Comeback gefeiert hatte. Aber die Berlinerin hat die WM ja nun mal abgesagt – Hannah Stockbauer und ihre Berater finden das ganz gut so. Denn offensichtlich spielt auch hier die Psychologie eine wichtige Rolle: Wenn die übermächtige Diva nicht dabei ist, stehen plötzlich ganz andere in der Sonne. Selbst wenn sie nicht so redegewandt und bisweilen sogar ein bisschen schüchtern wirken. Dabei begreift sich Hannah Stockbauer allenfalls als „Prima inter Pares“ – als Erste unter Gleichen also. „Ich sehe sich mich gar nicht so als Hoffnungsträger, wie andere das tun“, sagt sie.

Unbedarften Beobachtern mögen die Rituale im deutschen Schwimmteam allerdings gewöhnungsbedürftig vorkommen. Dass Beckmann auf seinem Dienst-Schreibtisch beim DSV in Kassel in kleinen Fläschchen das Wasser aus mehreren Schwimmbecken der Welt aufbewahrt, hat ja noch eine gewisse Logik. Dass die WM-Neulinge nach alter Sitte getauft werden und danach den Alten als „Sklaven“ dienen und sich allerlei Gemeinheiten gefallen lassen müssen, ist schon schwerer zu begreifen. Hört sich jedenfalls ziemlich kindisch an, wenn Altgediente die WM-Neulinge im Mallorca-Trainingslager zwingen, im Stringtanga auf den Ballermann zu gehen und fremden Herren anzubieten, ihnen den Po einzucremen. Soll so passiert sein, aber nicht einmal das Brustschwimmer-Unikum Mark Warnecke findet es schlimm. „Die Stimmung ist ideal, die Mischung aus Jung und Alt macht keine Probleme – das habe ich so noch nicht erlebt“, sagt der 33-jährige Arzt, der wie immer eine knallharte Diagnose bereithält: „Wir sind ein Haufen von Egoisten, aber es herrscht nicht mehr die aggressive Stimmung, die es schon gab.“ Kindliche Rituale hin oder her – mit Ralf Beckmann ist Harmonie ins deutsche Schwimmteam eingezogen.