berlin buch boom
: Ein Bild- und Essayband erkundet U- und S-Bahn-Linien, die früher von Westberlin aus unter dem Ostberliner Terrain hindurchführten

Aussteigen verboten!

Geisterbahnhöfe. Der Ausdruck sucht das Spukhafte im Nexus zwischen Politik und Nahverkehr. Geister sind Wesen, die sich zwischen zwei Welten befinden. Was da allerdings unter den Füßen der Ostberliner zu DDR-Zeiten zum Geist wurde, unterschied sich wohl je nach Standort des Betrachters. Aus der Sicht der Westberliner Fahrgäste waren die Bahnhöfe während der U- und S-Bahn-Fahrten selbst geisterhaft – Orte, die dort ihre Wirklichkeit verloren hatten, wo DDR-Grenzposten vor Werbeplakaten aus der Vorkriegszeit Wache hielten. Aus Ostberliner Sicht wiederum verhielt es sich umgekehrt: Die Züge selbst waren Geister – ihr Spuk erinnerte an die stets neu zu verdrängende kapitalistische Welt auf der anderen Seite.

Der Bild- und Essayband „Geisterbahnhöfe – Westlinien unter Ostberlin“ reflektiert diesen Zusammenhang, indem er vor allem von den Bahnsteigen aus auf die Züge blickt, die in der Zeit zwischen Mauerbau und Wende den Ostberliner Untergrund durchfuhren. An seinen besten Stellen gelingt es dem Band dabei, Geschichte nicht zur nostalgischen Erinnerung zu glätten, sondern als widersprüchliche Präsenz vor Augen zu führen. Zum Erkenntnismehrwert kommt dazu noch die ästhetische Freude an den Fotografien.

Michael Richter und Thomas Wenzel sind gleich nach dem Fall der Mauer in die bis dahin unzugänglichen Bahnhöfe eingedrungen. Ihre Aufnahmen stehen in dem Band neben Zeitdokumenten und Interviews mit Zeitzeugen – meist mit Beschäftigten der Ostberliner Verkehrsbetriebe. Dazu kommen Texte von Heinz Knobloch, Anfang der 60er Kulturredakteur der Ostberliner Wochenpost. Knobloch, der in der DDR durch seine Kolumne „Mit beiden Augen“ einige Popularität erlangte, war 1990 für kurze Zeit Präsident des PEN-Zentrums der DDR. Seine Texte spannen den Bogen von Weimar bis in die Gegenwart und verbinden über- und unterirdische, Westberliner und Ostberliner Topografien.

Dabei gelingt es vor allem den Fotos, die fremdartige Aura der Orte spürbar zu machen. Es öffnet sich ein Raum, in dem sich die verschiedenen Zeitstränge kreuzen: eine zerfallende Bahnhofshalle, im Hintergrund die verschwommenen Umrisse eines durchfahrenden Zuges; zugemauerte Treppenaufgänge, Stacheldrahtbarrikaden, daneben abblätternde Werbeplakakate aus den 30er-Jahren; Archivbilder aus der Gründerzeit der S- und U-Bahnen. Auf einem Bild sieht man zwei Grenzposten vor einem Sehschlitz; merkwürdig steif posieren sie für das Foto – im Geisterbahnhof gelingt es ihnen nicht, sich zum Zentrum einer Repräsentation zu machen, ohne selbst zum Geist zu werden.

Was den Fotografien gelingt, geht den Texten Knoblochs mit ihrem nostalgisch-altersweisen Ton allerdings oft ab. Die geschichtlichen Brüche werden dann eingeebnet oder verschwinden trotz vieler Details im Anekdotenhaften. Der „milde Kulturschock“, den Knobloch angesichts der Veränderungen im Stadt- und Straßenbild nach eigenen Angaben erfuhr, spricht sich allzu zahm aus. Daran ändern auch die litaneiartig kritisierten Umbenennungen von Straßennamen nichts. Trotzdem bietet der Band einen aufschlussreichen Blick in die Geschichte der Verbindungen zwischen den getrennten politischen Systemen Ost- und Westberlins und dem für die eine Stadt konzipierten technischen System der Transportmittel. Eine noch sehr nahe Vergangenheit, die in der Erinnerung bereits selbst oft etwas Geisterhaftes annimmt, erhält hier ein lebendiges, faszinierendes Bild.

PATRICK BATARILO

Heinz Knobloch: „Geisterbahnhöfe. Westlinien unter Ostberlin“. Ch. Links Verlag, Berlin 2003. 112 Seiten, 24 €