Die 1.000 Seiten eines Politikers

Bill Clintons epische Autobiografie „My Life“ spaltet die politische Öffentlichkeit in den USA nicht nur in die alten Lager – auch unter Demokraten ist das Erbe des Expräsidenten umstritten, zumal seine Memoiren ihrem aktuellen Präsidentschaftskandidaten John Kerry die Show stehlen könnten

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Kaum hatte Amerika zehn Tage medialen Overkill zum Tod von Ronald Reagan verdaut, brach eine Woche vor dem Erscheinen von Bill Clintons Autobiografie die „Clintonmania“ aus. Heute nun endlich kommt „My Life“ auf den Markt. Das Buch bricht schon jetzt alle Rekorde. 1,5 Millionen Bestellungen liegen vor, Clinton kassierte zehn Millionen Dollar allein als Vorschuss auf sein Honorar.

Seit einer Woche wetteiferten die Medien um die ersten Interviews und Buchauszüge. Time Magazine widmete dem 42. Präsidenten der USA seine Titelgeschichte. Zum Verkaufsstart in New York wird er von einem Buchladen zum anderen hetzen, um Autogramme zu geben. Danach sitzt er bei Talkshow-Königin „Oprah“ und den TV-Morgensendungen auf dem Sofa. Wenig später dürften die ersten Kritiker die 957 Seiten quergelesen haben – genug Stoff also für die hungrige Presse, um sich über den Beginn der politischen Sommerpause in Washington zu retten.

Die ersten Reaktionen der Kritikerzunft fielen nüchtern aus, selbst vor dem Hintergrund, dass die Memoiren der meisten Präsidenten selten literarische Glanzstücke sind. Die New York Times findet das Buch „schlampig, ausschweifend und oft langweilig“. Das Buch sei hastig geschrieben und editiert, ein „Patchwork“ verschiedener Schreibstile, eine Mischung aus Alltagsroutine, politischer Reflexion und Psychodrama. Die Washington Post nennt es eine „persönliche Soapopera“.

Eine persönliche Seifenoper

Viele Kommentatoren beklagen das deutliche Übergewicht des Privaten vor dem Politischen und werten das Buch vorwiegend als Versuch, Clintons Reputation nach dem Sexskandal wiederherzustellen, wobei er sich vorwiegend als Opfer einer rechtskonservativen Verschwörung darstellte. Der alte Grabenkrieg über seine Person ist daher erneut voll ausgebrochen. Wer Clinton schon immer hasste, wird es jetzt auch tun, ihn als Manipulator und Populisten beschimpfen. Seine Fans hingegen werden ein Loblied auf sein Charisma, seinen Intellekt, seine Energie und seinen Optimismus anstimmen. In dieser gereizten Atmosphäre scheint eine sachliche Auseinandersetzung über die politischen Erfolge und Misserfolge seiner Präsidentschaft kaum möglich.

„Die Art und Weise, wie Clinton gegenwärtig beurteilt wird, hängt maßgeblich davon ab, wer urteilt“, sagt Stephen Hess vom Brookings Institute in Washington. Es sei noch nicht genug Zeit verstrichen, um sich unabhängig vom politischen Lager eine individuelle Meinung bilden zu können.

Demokraten, aber auch moderate Republikaner sehen in ihm den volksnahen Präsidenten, der den Staat verschlankte und den Haushalt sanierte, obwohl er neue Sozialprogramme für die Mittelschicht auflegte. „Ihnen erscheinen im Vergleich zur derzeitigen Regierung viele seiner Entscheidungen in einem rosafarbenen Licht, sodass sie überwiegend wohlwollend auf seine Amtszeit blicken“, glaubt James Thurber, Präsidenten-Historiker an der American University.

Beinharte Republikaner haben jedoch längst ihr Urteil über ihn gefällt. Für sie war er ein „kompassloser Opportunist“, wie der Christian Science Monitor schreibt, der auf „einer Welle oberflächlicher Popularität segelte“. Larry Sabato von der University of Virginia prophezeit, dass „die Geschichte mit ihm hart ins Gericht gehen wird“. Seine Untätigkeit gegenüber dem Terrorismus habe den 11. September möglich gemacht, auch wenn sich diese Einsicht vielleicht erst langsam durchsetzen werde. Der Werbespot einer konservativen Organisation, den der TV-Sender CBS vor dem ersten Interview mit Clinton ausstrahlte und ihm vorwarf, für die Terrorattentate verantwortlich zu sein, lieferte denn auch einen Vorgeschmack darauf, wie Amerikas Rechte Clintons historisches Vermächtnis gern definiert wissen wollen.

Die Demokraten plagen, unabhängig davon, wie Clintons Geschichtsbild später einmal ausfallen wird, momentan ganz andere Sorgen: Die zeitliche Nähe der Buchveröffentlichung könnte dem Wahlkampf-Endspurt von Präsidentschaftskandidat John Kerry die Show stehlen. Ähnlich wie der Tod von Reagan den Republikanern plötzlich vor Augen führte, wie zwergenhaft George W. Bush gegenüber ihm wirkte, sorgen sich die Demokraten, dass ihr wichtigster Vertreter der jüngeren Vergangenheit den hölzernen Kerry in den Schatten stellt.

Ein öffentlicher Grabenkrieg

Diese Angst entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Lange Zeit rangen die Demokraten um das Erbe Clintons. Viele distanzierten sich von seinem Verhalten in der Lewinsky-Affäre. Noch im Vorwahlkampf gab es eine deutliche Absetzbewegung unter Howard Dean, der die Partei stärker links von Clinton verorten wollte. Doch Dean wurde abgestraft. Das Pendel schwang wieder in die Mitte zurück.

Immer öfter hört man nun aus dem Munde Kerrys die Worte „wie Clinton“. In der Außenpolitik will er vor allem Allianzen pflegen. Innenpolitisch sollen staatliche Programme in eine verantwortliche Fiskalpolitik eingebettet werden. Auch sonst teilt er Clintons Überzeugung, die Wähler unterstützen staatliches Handeln nur so lange, wie sie das Gefühl haben, dass dabei keine übermächtige Bürokratie entsteht.

Das Motto innerhalb der Partei lautet nunmehr: Von Clinton lernen heißt siegen lernen.

Dabei gibt es eine auffallende Differenz zwischen ihm und Kerry. Clinton vertrat eine moralische verankerte Außenpolitik. Er glaubte, ähnlich wie Bush, an die Verpflichtung Amerikas, im Namen von Demokratie und Menschenrechten im Ausland zu intervenieren. Kerry sieht sich dagegen lediglich als Krisenmanager. Anders als Bush, aber im Einklang mit Kerry betonte Clinton jedoch eher die Hoffnungen und Möglichkeiten statt Gefahren einer immer vernetzteren Welt. Bushs Weltsicht dagegen ist düsterer und geprägt von der Vorstellung, dass islamische Terroristen die westlichen Gesellschaften zerstören wollen.

Das Clinton-Buch platzt jedoch nicht nur in den Wahlkampf und den bevorstehenden Parteitag der Demokraten. Der Abschlussbericht der Untersuchungskommission zum 11. September steht an, im Irak findet in zwei Wochen der Machttransfer an eine Übergangsregierung statt. Daher wird die Diskussion über Clinton Vermächtnis auch eine Stellvertreterdebatte über einen klugen Antiterrorkampf und den Irakkrieg sein. Zur Verblüffung mancher Parteifreunde unterstützte Clinton wiederholt Bush für seine harte Haltung gegenüber dem Irak. Er kritisierte jedoch die Eile, mangelnde Diplomatie und Dominanz militärischer Mittel. „Es war ein Fehler, die UNO-Inspektionen nicht zu beenden“, sagte er im Interview mit CBS am Sonntag. „Wenn man glaubt, dass die Welt vernetzt ist und man nicht alle potenziellen Feinde töten, okkupieren oder verhaften kann, muss man andere Wege gehen“, verkündete er jüngst in einer Rede.

Der Satz hätte ebenso gut aus dem heutigen Wahlkampf-Repertoire von Kerry stammen können. Kein Wunder, umgibt sich der Kandidat doch mit ehemaligen Clinton-Mitarbeitern wie Samuel Berger, Sicherheitsberater, Richard Holbrooke, dem späteren UNO-Botschafter, und Wirtschaftsfachmann Gene Sperling.

Clinton lebt jedoch nicht nur in der Politik der Demokraten fort. Für viele Amerikaner personifiziert er die unbeschwerte Epoche Amerikas in den Neunzigerjahren mit einem unvergleichbaren Wirtschaftsboom und dem Aufatmen nach dem Kalten Krieg. „Er ist ein Markenzeichen“, sagt Chris Atkins von Ogilvy Public Relations Worldwide. „So wie Starbucks guten Kaffee verspricht, steht Clinton für Fortschritt und Optimismus.“

Angesichts von Krieg und Terror erscheint dieses unbeschwerte Gefühl jedoch wie aus einem weit zurückliegenden Jahrhundert.