Wissenschaft sucht den Holzweg

Fauna und Flora als Ideenlieferant für Forschung, Industrie und Technik. In Bonn forschen Wissenschaftler an natürlichen High-Tech-Lösungen: Untersucht wird die Festigkeit von Spinnennetzen oder die Feinsensorik der australischen Feuerkäfer

VON HOLGER ELFES

Von der Natur lernen ist immer noch das Beste. Vom Blatt der Lotusblume perlt Wasser und Schmutz einfach ab. Auch deshalb wird der Lotus in Ostasien als heilig verehrt. Bonner Wissenschaftler brachte der Lotus auf eine erstaunliche Erfindung.

Sie haben eine Fassadenfarbe entwickelt, an der Schmutz und Regen abperlt wie an einem Lotusblatt. Mit „Lotusan“ bestrichenen Flächen reinigen sich selbst durch den Regen. Die Wissenschaftler um Wilhelm Barthlott vom Botanischen Institut der Universität Bonn arbeiten eng mit der Industrie zusammen. Weitere Anwendungsgebiete ihrer Erfindung sind Holzlasuren, Autopflegemittel und Beschichtungen. Mittlerweile wird auch ein Schmutzstopp-Silikonwachs für unterschiedlichste Oberflächen angeboten.

Die junge Wissenschaftsrichtung nennt sich „Bionik“. Gezielt sollen nützliche Eigenschaften aus der Natur verwendet werden. Dem Lotus-Effekt kam Barthlott, einer der Bionik-Pioniere in Deutschland, mit dem Rasterelektronenmikroskop auf die Spur:„Das Geheimnis liegt in der Mikrostruktur der Pflanzenoberfläche.“ Die Blätter der Sumpfpflanze weisen mikroskopisch kleine Zellerhebungen auf, die wiederum mit noch kleineren Wachskristallen übersät sind, was einen erstaunlichen physikalischen Effekt bewirkt: Wassertropfen, die auf das Blatt fallen, finden aufgrund der Oberflächenspannung der Flüssigkeit keinen Halt und rutschen vom Blatt herunter. Das funktioniert übrigens auch bei zähflüssigem Honig, Klebstoffen und Leim. Eine Eigenschaft, die dem Lotus nicht nur Bewunderung einbrachte, sondern auch sein Überleben sichert: Da er sich vor Schmutz und Feuchtigkeit schützt, haben Pilze und Viren auf ihm keine Chance.

In der menschlichen Gesellschaft kann der Lotus-Effekt einen Beitrag zum Umweltschutz leisten. Oberflächen, die mit einer Nano-Struktur wie beim Lotus ausgestattet sind, verschmutzen nicht mehr und benötigen daher auch keine Reinigungsmittel. Fassaden müssen seltener gestrichen werden.

Wie sehr sich der Mensch gegenüber der Natur auf dem Holzweg befand, beweist die Tatsache, dass Techniker versuchten, immer glattere Oberflächen zu schaffen, um sie vor Dreck zu schützen. Dabei ist das Gegenteil, also eine leicht raue Struktur, der richtige Weg, hat man in Bonn herausgefunden.

Auch der australische Feuerkäfer Merimna atrata fasziniert die Bonner Wissenschaftler. Das Insekt verfügt über einen Sensor, der besonders auf Infrarot-Strahlung anspricht, die von brennendem Holz ausgeht. Zoologen der Uni Bonn haben diesen „Sinn fürs Brenzlige“ inzwischen kopiert und einen bionischen Waldbrand-Sensor entwickelt.

Um Ideen wie diese geht es im deutschlandweiten Bionik-Kompetenznetz BIOKON II. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert die Initiative in den kommenden drei Jahren mit sechs Millionen Euro. In Bonn beteiligen sich Botaniker und Zoologen an dieser „Transferstelle für Patentlösungen aus der Natur“ – „Das Netzwerk ist Anlaufstelle für Industrie und Wissenschaftler, die ein Problem haben, das sie mit Hilfe bionischer Verfahren lösen möchten“, erklärt der Botaniker Zdenek Cerman: „Wir vermitteln dazu die Kooperationspartner, die bereits Erfahrungen mit der entsprechenden Aufgabenstellung haben und vielleicht helfen können.“

Forschungen befassen sich mit der höchst belastbaren Spinnenseide. Um möglichst stabile wie materialsparende Autokarosserieteile zu konstruieren, orientieren sich Computerprogramme an den Wachstumsprinzipien von Knochen oder Bäumen. Ein weiteres Thema der Bonner Bioniker sind Strömungs-Messgeräte, die sich an den Seitenlinienorganen der Fische orientieren, oder an einer Art Elektro-Ortung: „Schwach-elektrische Fische wie der afrikanische Elefantenrüsselfisch erzeugen regelmäßig elektrische Pulse von wenigen Volt Spannung und messen gleichzeitig über hunderte von Hautsensoren das elektrische Feld, das sich dabei um sie aufbaut“, erklärt Gerhard von der Emde. Gegenstände in ihrer Nähe verzerren das elektrische Feld; die Fische erhalten so ein komplexes elektrisches Bild ihrer Umgebung. „Nach diesem Vorbild lassen sich beispielsweise völlig neuartige Abstandsmessgeräte konstruieren, aber auch Sensoren, die Materialfehler in Produkten finden oder sogar Hautkrankheiten detektieren und vermessen können. Wir suchen gerade nach Diplomanden oder Doktoranden, die einen Prototyp bauen und austesten möchten.“

Der gemeinsame Bionik-Stand auf der Hannover-Messe Ende April war stark besucht von Interessenten aus Politik und Industrie. Präsentiert wurden dort auch toxidfreie Antifouling-Oberflächen, biozidfreie Fassadenfarbe, selbstreinigende Kunststoffoberflächen, Faserverbundwerkstoffe, Roboter und vieles mehr.