Noch nicht mal richtig rückwärts

Torero mit Down-Syndrom, ein Duell mit Stolperfallen: Die „verrückt-normal und normal-verrückten“ Schauspielstars des Bremer Blaumeier Atelier haben ihre erste Oper produziert. Morgen hat „Carmen“ Premiere

Wenn sie auf der Bühne Männer wie Trophäen sammelt, könne sie sich auch selbst ein bisschen ausprobieren – sagt Carmen

Von Annedore Beelte

Rücken an Rücken die Duellanten. Das Kommando fällt. Zuniga macht einen energischen Schritt nach vorne. José klebt ihm ebenso energisch an den Fersen. Stutzen. So wird das nie etwas mit der Duellaufstellung. „Sehr gut!“ Regisseurin Irma Burma begleitet jede Aktion mit einem bestätigenden Kommentar. Die Probe zu Georges Bizets Oper „Carmen“ läuft wie am Schnürchen.

Noch ein Schritt, dann stolpert José über Zunigas Füße. Der stolze Spanier mault los: „He, du kannst ja noch nicht mal richtig rückwärts gehen!“

Auch so kann man ein Duell beginnen. „Unsere Ideen entstehen beim Improvisieren“, erklärt Imke Burma. Sie probt seit drei Monaten mit elf „verrückt-normal und normal-verrückten“ Schauspielstars des Blaumeier-Ateliers. Diese komplizierte Selbstbeschreibung will sagen: Hier spielen psychisch kranke und gesunde, behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen – mit dem Anspruch, gleichberechtigte Partner zu sein. Klar, dass die SchauspielerInnen nicht abends zu Hause Texte büffeln. In der Szene wird getan und gesagt, was die Geschichte erfordert – oder was den Schauspielern gerade einfällt. Wolfgang Göttsch, der Darsteller von Carmens unglücklichem Liebhaber José und Star zahlreicher Blaumeier-Produktionen, ist beim Entwickeln der Duellszene einfach rückwärts gegangen.

Imke Burma und ihre Regie-Kollegin Barbara Weste notieren sich solche Geistesblitze und bauen sie in die Dramaturgie ein. Der Stolperer gehört zwar nicht zum Konzept, wird aber nahtlos in die Szene hineingebastelt. Entsprechend muss das Bremer Kaffeehaus-Orchester, das Blaumeiers erste Opern-Produktion zum Klingen bringt, improvisieren können: Wie lang eine Szene dauern wird, weiß man vorher nie. Keine Probe, keine Aufführung ist wie die andere.

Carmen schaut ernst, hält Kopf und Schultern gesenkt. Sie wirkt, als sich unversehens die beiden Liebhaber treffen, besorgt um José, der ihretwegen zum Verbrecher wird. Melanie Socher spielt eine sanfte, traurige und fast aufrichtige Femme fatale. „Ich bin ganz anders als Carmen, eher ein stiller Typ“, sagt die zierliche Frau, die in einer Behindertenwerkstatt arbeitet und hier das erste Mal auf der Theaterbühne steht. Aber wenn sie auf der Bühne Männer wie Trophäen sammelt, könne sie sich auch selbst ein bisschen ausprobieren. In der Probenpause lehnt sie abseits von den anderen am Geländer des alten Lagerhauses, raucht – und ein bisschen Carmen lacht ihr doch aus den Augen.

„Die Augen – seht euch an“, ruft die Regisseurin immer wieder in die Szene. Die Regisseurin gibt klare Anweisungen für den Ausdruck der Emotionen, die Schauspieler setzen sie um. Manchmal auf ihre eigene Weise: Denise Stehmeier soll mit dem Publikum im Lichtkegel der Taschenlampe ängstlich-suchend Blickkontakt halten. Prompt leuchtet Josés Braut Michaela jedem Zuschauer mitten ins Gesicht. Wolfgang Göttsch fragt oft nach, lässt sich die Bedeutung der Textzeilen erklären oder kommentiert, was seine Partnerinnen tun. Imke Burma hat die SchauspielerInnen in Einzeltrainings und als Gruppe auf das treibende Moment der Oper eingestimmt: die Magie der Verführung. Auf einem Flirt-Parcours konnte jeder mit jedem schmelzende Blicke und verheißungsvolle Gesten üben.

Aladdin Detlefsen als Stierkämpfer Escamillo wirft sich in die Brust. Der junge Mann mit Down-Syndrom weiß mit dem Publikum zu spielen: Er funkelt aus dunklen Augen herüber, schleudert seine Jacke der imaginären ersten Reihe vor die Füße, stampft und schnaubt wie ein Stier. Klar, dass Carmen den biederen José für so jemand sitzen lässt. Seine alte Verlobte Michaela hingegen lässt José auch im Knast nicht hängen. Sie holt eine Säge, um ihn zu befreien. „Ich warte hier“, ruft ihr José treuherzig durch die Gitterstäbe hinterher.

Gelächter auf den Regie-Sitzen. Im richtigen Leben, meint Wolfgang Göttsch, ist einer Carmen wenig abzugewinnen: „Zu viel Energie“, urteilt er. „Was soll man damit anfangen?“

Premiere am 25. Juni, 20 Uhr, Tor 48 im Bremer Güterbahnhof. Die Vorstellungen sind bereits ausverkauft, eine Wiederaufnahme ist aber geplant