Angst vor dem eigenen Volk

Nach 23 Jahren unter Notstandsgesetzen wollen die Ägypter endlich Reformen in ihrem Land. Doch das Regime fürchtet sich vor Chaos und Machtverlust

AUS KAIRO BEATE SEEL

In Ägypten gab es vier Tabus: Vater, Mutter und die beiden Söhne. Gemeint sind Präsident Hosni Mubarak, seine Frau Suzanne sowie deren erwachsene Kinder, Alaa und Gamal. Das erzählt Mohammed Sid-Ahmad, Politologe und Publizist. Doch die Tabus sind nicht mehr das, was sie mal waren. Inzwischen werden Mubarak und seine Familie auch in der Öffentlichkeit kritisiert. „Die neue Offenheit der Kritik ist wichtig“, sagt Sid-Ahmad.

Diese Offenheit macht es möglich, dass über Reformen gesprochen wird. Gleich, ob man mit Intellektuellen wie Sid-Ahmad redet, ehemaligen Mitarbeitern Mubaraks oder einer Menschenrechtsaktivistin, die sich um die Folteropfer aus den Gefängnissen kümmert – sie alle wollen Veränderungen in einem Land, in dem seit 23 Jahren Notstandsgesetze gelten.

Aber der Wandel soll nicht von außen kommen. Die Mehrzahl der Reformbefürworter lehnt die Initiative der USA für einen „Erweiterten Mittleren Osten“ ab, die auf dem EU-USA-Gipfel am Freitag in Irland zur Sprache kommen wird. Niemand glaubt, dass Präsident George W. Bush die arabische Welt nun plötzlich selbstlos mit Demokratie beglücken möchte. Denn der israelisch-palästinensische Konflikt ist nicht gelöst, und den Irakkrieg halten die meisten Ägypter anders als Washington nicht für den ersten Schritt einer Demokratisierung der Region.

„Wir stehen am Anfang vom Ende des gegenwärtigen Regimes in Ägypten“, sagt Sid-Ahmad. Neben dem Druck aus den USA gäbe es auch den Druck nach Reformen in der eigenen Gesellschaft. „Die entscheidende Frage für das Regime ist: Wie weit kann es gehen, ohne Macht zu verlieren? Eine Situation, in der es nicht gewinnen kann.“ Deshalb glaubt Mohammed al-Sayed Said nicht, dass es das Regime mit Reformen ernst meint. Der stellvertretende Direktor des Al-Ahram-Zentrums für strategische Studien denkt, dass der Staat sich nur dazu bewegen lässt, „das notwendige Minimum zu machen, um den Druck wegzunehmen“.

„Unter Mubarak wird es keine kohärenten Reformen geben“, sagt Said. Möglicherweise werde der Präsident die Bildung von Parteien erleichtern. Doch das Verbot der Muslimbrüder werde nicht aufgehoben, und eine Verfassungsänderung werde es auch nicht geben. Er spricht von einer „Ideologie der Angst“, welche die Regime umtreibe – Angst vor Anschlägen, Angst vor den Muslimbrüdern und Angst vor einem wirtschaftlichen Kollaps, vor neuen „Brotunruhen“ wie im Jahr 1977.

Der innere Druck ist dabei für das Regime weitaus gefährlicher als Initiativen aus Washington. Die Kluft zwischen Herrschenden und Bevölkerung wird immer größer. Doch während die einen von politischen Reformen reden, geht es den anderen zunächst einmal um Arbeit, Brot, eine gute Ausbildung für die Kinder und ein funktionierendes Gesundheitssystem. Und so wird viel über Reformen geredet, etwa auch auf dem letzten Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Tunis, aber wenig getan. „Das ist wie eine Debatte über den Mars,“ sagt al-Sayed Said.

Innerhalb der Regierung sind die Reformer eine winzige Minderheit. Einige schreiben diese Rolle dem Präsidentensohn Gamal mit seinen Jugendprojekten oder Suzanne Mubarak zu, die sich für Frauen und Menschenrechte engagiert. „Solange der Präsident nicht sagt, dass er dahinter steht, wird nichts passieren,“ kommentiert al-Sayed Said. „Eine Machtbasis haben nur der Staat und die Muslimbrüder.“ Die Meinungen über die Bruderschaft gehen weit auseinander. Schließlich könnte sie bei freien Wahlen die stärkste Partei werden oder gar die Regierung stellen. Daher plädieren einige Reformbefürworter für einen langsamen, vorsichtigen Weg. Für andere ist das ein Vorwand, um Reformen zu verhindern.

Khary Nour al-Din, der von 1997 bis 2002 im Pressebüro von Mubarak gearbeitet hat und heute politischer Korrespondent der Zeitung al-Ahbar ist, denkt, dass der Staat auch die Muslimbrüder aushalten könnte. „Vielleicht waren die früher eine Gefahr,“ meint er, „aber das System ist heute stabiler. Daher bezweifele ich, dass die Muslimbrüder an die Macht kommen.“

Doch blauäugig sind Ägyptens Reformer nicht. Auch Sid-Ahmad schließt nicht aus, dass es bei politischen Veränderungen zu Chaos und gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen könne.

Dagegen sind der Menschenrechtlerin Aida Saif Addaula taktische Erwägungen über die Muslimbrüder völlig egal. Man brauche doch nur den Fernseher anzustellen, um schon heute ein islamistisches Frauenbild präsentiert zu bekommen: Frauen sollten zu Hause bleiben, sich „anständig“ anziehen, dem Mann unterordnen … Ihr Plädoyer: Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Das Regime muss weg, freie Wahlen müssen her, egal wie sie ausgehen: „Die Islamisten werden kommen. Lasst sie doch!“