Berlin knirscht mit den Zähnen

Der Bundeskompromiss für eine Gesundheitsreform könnte für das arme Berlin schlimme Folgen haben: Stadträte befürchten sinkendes Gesundheitsbewusstsein, was vor allem Kinder treffen würde

von SUSANNE LANG

Wenn einem Neuköllner Kind ein Zahn ausfällt, stört das Ulla Schmidt wohl wenig. Genau das könnte in dem sozial schwachen Bezirk aber zu einem Massenphänomen werden, fürchtet zumindest der Neuköllner CDU-Politiker Michael Freiberg, nachdem die Gesundheitsministerin am Montag ihre Pläne zur Gesundheitsreform vorstellte.

Seit der Bezirksstadtrat für Gesundheit diese kennt, macht er sich Sorgen um den Gesundheitszustand seines Bezirks. „Die Reform trifft vor allem Menschen, die knapp oberhalb der Einkommensgrenze leben und gerade nicht mehr sozialhilfeberechtigt sind“, fürchtet Freiberg. Und davon leben in Neukölln nicht wenige. Um die 33.000 Menschen sind im Durchschnitt arbeitslos, gut 38.000 Haushalten hatten im letzten Jahr lediglich zwischen 500 und 900 Euro netto zur Verfügung.

„Nicht förderlich für sozial schwache Strukturen“, heißt daher Freibergs Hauptkritik an der Gesundheitsreform aus Berliner Sicht. Im Gegensatz zu anderen Stadtstaaten wie etwa Hamburg, wo jeder Haushalt pro Jahr durchschnittlich 4.000 Euro mehr zur Verfügung hat, könnten durch die Mehrbelastung in Berlin die Bereitschaft, in Gesundheit zu investieren, und das Bewusstsein für Vorsorge sinken.

Das befürchten zumindest die Stadträte der ärmeren Berliner Bezirke. „Armut hat Auswirkungen auf die Gesundheit“, betont Kerstin Bauer (PDS), Sozialstadträtin in Kreuzberg-Friedrichshain. „Vor allem bei Kindern sind verstärkt Anzeichen der gesundheitlichen Vernachlässigung zu beobachten.“ Kariöse Zähne, schlechter Impfzustand, Fettleibigkeit – gegen diese Symptome muss auch Freiberg in Neukölln immer mehr ankämpfen. Trotz eines von ihm vor bereits zwei Jahren vorgelegten Notplans für Gesundheitsentwicklung sinkt das Gesundheitsbewusstsein der Bürger. „Volkswirtschaftlich zahlen dabei aber alle drauf“, da die Solidargemeinschaften Kasse, Rente und Sozialhilfe belastet würden, warnt Neuköllns Gesundheitsstadtrat Freiberg.

Sein Parteikollege Mario Czaja, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU, findet noch drastischere Worte und wirft die Frage auf, „inwieweit in strukturschwachen Gebieten, insbesondere in Berlin als Hauptstadt der Aids- und chronisch Kranken, die gewünschte Entlastung der Krankenkassen überhaupt funktionieren kann“.

Bei der Berliner AOK sieht man die Reform in diesem Punkt gelassener. „Die Beitragseinnahme ist durch den Risikostrukturausgleich gesteuert,“ erklärt Geschäftsführer Rolf Dieter Müller. Eventuelle Defizite würden vom Land ausgeglichen. Gravierender bewertet Müller ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dass die Reform die strukturellen Probleme nicht löse, sondern die Beitragszahler einseitig belaste. Heidi Jockel vom DGB Berlin-Brandenburg bezweifelt, dass angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Berlin die nun anfallende Zusatzversicherung für Zahnersatz überhaupt geleistet werden könne.

Wie gravierend die Folgen für Berlin tatsächlich sein werden, kann noch niemand abschätzen. An große Nachbesserungen glauben die Berliner Kritiker jedoch nicht. Elfi Jantzen, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, findet es um so wichtiger, die strukturellen Reformanregungen aus dem Bundeskompromiss umzusetzen: „Wir brauchen mehr Versorgungszentren, in denen ambulante und stationäre Behandlung an einem Ort stattfindet.“