Im Irrgarten der Dinge

Karin K. ist eine Messie. Seit einem Jahr versucht sie, durch die Hilfe von Leidensgefährten eine neue Klarheit in ihrem Chaos zu schaffen. Aber der Ausgang dieser Anstrengungen ist noch ungewiss

VON WALTRAUD SCHWAB

Karin K. ist eine Messie. Das englische Wort schneidet ins Fleisch, obwohl es versöhnlicher daherkommt als „Schlampe“. Die 56-jährige Charlottenburgerin gehört zu jenen Menschen, die nichts wegwerfen können, dabei allerdings auch nicht mehr wissen, was sie besitzen. Längst hat sie den Überblick über die Dinge verloren, wie eine, die ziellos durch einen Irrgarten wandert, die Hoffnung aber nicht aufgibt, durch unablässige Anstrengung ihres Verstandes den sinnlosen Weg, den sie geht, zu verstehen.

Seit Karin K. denken kann, ringt sie um Klarheit. Im Laufe ihres Lebens ist die Anstrengung immer größer geworden, das Ziel indes ist in umso weitere Ferne gerückt. Weil sie das Klare in der Nähe zu den Dingen sucht, und sei es nur jener zu einem Stück Butterbrotpapier, einer abgebrannten Kerze, einem leeren Senfglas, steht sie auf verlorenem Posten. Um Kontrolle über das zu haben, womit sie in Berührung kommt, brauchte sie eher Distanz. Die aber hat sie nur zu Menschen.

Irgendwann in ihrem Leben wurden die Vorzeichen falsch gesetzt. Statt „plus Freunde minus Krempel“ ist „minus Freunde plus Krempel“ herausgekommen. „Messies sind einsam“, sagt sie. Es klingt wie eine Beichte.

Flucht nach vorn ist Karin K.s derzeitiger Versuch, sich selbst wieder positiv zu spüren. Deshalb erlaubt sie als Frontfrau der Selbsthilfegruppe „Anonyme Messies“ einen Blick in ihre Parterrewohnung. Schön geschminkt mit blauer Wimperntusche, rosafarbenem Lippenstift und einer Brille in Rot-Oliv-Tönen, die zu ihrer adretten Kleidung passt, öffnet sie die Tür. „Messies sieht man das Alltagschaos nicht an. Nach außen wissen sie zu funktionieren. Und zwar perfekt.“ Auch im Beruf. Karin K., die in einer Apotheke angestellt ist, arbeitet sehr genau, sehr zuverlässig, sehr ordentlich.

Ganz anders sieht es in der Wohnung aus. Durch den voll gestellten Flur geht es in einen mit nikotinbraunen Gardinen behangenen düsteren Raum, der von zwei schmalen Gängen durchzogen ist. Der eine führt zur Küche, die für Fremde tabu ist, der andere zu einer Kommode, in der ihre Wäsche liegt.

Rechts und links der Gänge ist alles voll gestellt. Auf einem Tisch stehen Flaschen, Senf, Marmelade, Bücher, Zeitschriften, Kerzenständer, Tchibo-Tüten mit Unausgepacktem. Bücher liegen auf dem Fußboden unter dem Tisch und vor den Regalen. In der Mitte des Zimmers stehen zwei alte Ohrensessel, ein Tisch, ein Sofa. Auf ihnen und um sie herum türmen sich Papierstapel, Bücher, Bettwäsche, Klopapier und der ganze Krimskrams des Alltags. Der Plunderberg ist in einem trostlosen, staubigen Nachmittagsbraun verfangen. Die alte Stehlampe mit dem gewellten Schirm, die ein fades Licht darauf wirft, verstärkt das Schemenhafte der Dinge.

Auf die Frage, was ihr das Liebste in der Wohnung ist, zeigt sie auf den mit Blumenschnitzereien verzierten Schrank. „Ein Erbstück.“ Auf der Ablage stapeln sich vergilbte Bäckereitüten, Glühlampenschachteln, Vasen, Disketten, homöopathische Mittel, eine Kopie ihres Lebenslaufs, eine leere Flasche „Vichy Lipidiose“. Warum kann die nicht weggeworfen werden? „Wenn ich sie aufräumen wollte, müsste ich alles ordnen. Dafür brauche ich Platz, den habe ich nicht“, antwortet sie.

Das Zwangssystem der Gedanken, in dem sich Karin K. bewegt, ist kompliziert. Es zu durchbrechen setzt eine Selbstdiziplinierung voraus, die an die Grenzen ihrer Kraft geht. Jeder Schritt muss geplant werden: Das benutzte Taschentuch kommt in eine Tüte! Wenn die Tüte voll ist, kommt sie in die Mülltonne! Die inneren Widerstände gegen solches Tun sind enorm. Deshalb hat Frau K. auch schon lange nicht mehr Staub gesaugt, denn derzeit sind Textilien ihr Thema, nicht Papier oder Teppiche.

„Das ist das Schlafzimmer“, sagt Karin K. und weist hinter sich auf einen Raum, in dem ein niedriges Bett steht. Auf dessen Rand liegen Zeitschriften und Bücher, darüber hängt ein vergilbtes Bachblütenposter, das sich von der vergilbten Tapete kaum abhebt. Rund um das Bett und vor den Schränken stehen Taschen und blaue Mülltüten herum. Vom Bett direkt einzusehen ist die wichtigste Tür nach draußen: der Fernseher. „Messies sind Suchtmenschen.“ Fernsehsucht, Kaufsucht, Alkohol. „Aber“, betont Frau K., „ich trinke nicht mehr.“ Das hat sie allein geschafft.

Stolz wie ein Kind, das gute Noten nach Hause bringt, zeigt Frau K. auf den Kleiderschrank, in dem ein T-Shirt ordentlich auf dem nächsten liegt, eine Bluse glatt neben der anderen hängt. Sie sei dabei, ihre Klamotten in Ordnung zu bringen, erklärt sie. Die Taschen und Mülltüten, die noch herumstehen, müssten zu Oxfam. Derzeit plagt sie sich mit der Frage, wie sie diese dorthin bekommt. Sie in eine ordinäre Kleidersammeltonne zu geben, das geht aus ihrer Sicht nicht. Denn alles unterliegt einer komplizierten Logik, in der ständig unklar ist, wer sich durchsetzt: Die Dinge oder das Subjekt. „Solange die Sachen nur in Tüten sind, sind sie ja noch in der Wohnung“, sagt sie. Wohl wissend, dass sie vor einem Jahr im Müll unterzugehen drohte. So wie es jetzt aussehe, das sei schon ein großer Erfolg.

Letzten Mai wurde die Vermieterin aktiv, denn die Nachbarn hatten sich über Gestank beschwert. Weil Karin K. deren Briefe nicht mehr öffnete, klingelte es eines Tages an ihrer Tür. Obwohl zu Hause, ignorierte sie es. „Da schob jemand die Rollläden hoch, und ein Polizistengesicht schaute ins Zimmer.“ Mithilfe des sozialpsychiatrischen Dienstes, der ebenfalls kam, wurde ihr vorgeschlagen, eine Entrümpelungsfirma zu beauftragen. Diese entsorgte die meterhohen Zeitungsstapel im Flur, in den Zimmern, auf dem Bett, öffnete unausgepackte Koffer von längst vergangenen Reisen, warf den Müll weg, denn auch zur Tonne hatte sie es monatelang nicht mehr geschafft. Man förderte Einkaufstüten mit vor Monaten Gekauftem zutage und räumte den Weg zu ihren Kleiderschränken frei. „Man sieht das alles selbst nicht mehr“, sagt sie. „Man bekommt einen Tunnelblick.“ Ihre Wohnung war Frau K. zum Kokon geworden, in dem sie sich verkroch, obwohl sie merkte, dass die Dinge um sie herum tot waren und nicht wärmten. Als die Entrümpelungsfirma ihre Höhle aufbrach und sie dabei zuschaute, sei das wie ein Aufatmen gewesen. „Seither ziehe ich auch die Rollläden wieder hoch.“

Dass Frau K.’s Leiden Ursachen hat, die weit zurückreichen, ist ihr klar, schließlich war sie lange in psychologischer Behandlung und hat selbst eine Ausbildung zur Gestalttherapeutin gemacht. Nachkriegskindheit, Tod der Mutter, als sie 4 Jahre alt war, eine resolute Stiefmutter – Nähe und Wärme gab es in Frau K.s Kindheit nicht im Überfluss. Und weil sie nicht gelernt hatte, für sich zu sorgen, gingen ihre Träume später ebenfalls nicht in Erfüllung. Sportreporterin wollte sie werden. Fußball, Handball, Boxen und so. „Um Gottes willen, wie stellen Sie sich das vor, als einzige Frau unter Männern!“, meinte man in der Redaktion. Das war Mitte der 60er-Jahre. Später studierte sie Medizin und brach das Studium nach dem 2. Staatsexamen ab. Zwischen Begehren und Alltag klaffte für sie schon lange eine Lücke.

Seit letztem Jahr, als die Polizei kam, geht Karin K. in die Gruppe der Anonymen Messies. Dort sind Leidensgefährten. Sie verstehen die Anstrengung, die es bedeutet, einen Schrank aufzuräumen, und sie geben Bestätigung für weggeworfene Mülltüten. Denn an so kleinen Dingen müssen Messies ihr verlorenes Selbstwertgefühl wieder aufrichten. Mühsam und jeden Tag neu.