TSCHECHIENS „AGENDA 2010“-DEBATTE IST IDEOLOGISCH ÜBERFRACHTET
: Prag braucht neue Eliten

Tschechiens Sozialsysteme werden von ähnlichen Problemen geplagt wie die Deutschlands: Die Bevölkerung überaltert, es gibt zu wenige Kinder, die Ansprüche auf Gesundheitsfürsorge, Rente und Arbeitslosenunterstützung sind hoch. Zuwanderung wird eher als Zumutung denn als Lösung begriffen. Doch die politischen Debatten über diese Probleme unterscheiden sich in beiden Ländern stark; das wurde bei der gestrigen turbulenten Abstimmung über Tschechiens „Agenda 2010“ (die dort wohlweislich so niemand nennt) deutlich.

In Deutschland regiert der Pragmatismus: Der Druck der Realität führt die Protagonisten der Opposition und der Regierung an einen Tisch. Bei allen Fehlern, die etwa die Gesundheitsreform aufweist: Es ist ein Entwurf da, der inhaltlich diskutiert werden kann.

Anders in Tschechien. Dort wird noch immer ideologisch argumentiert. Die Opposition, zu der außer den starken Kommunisten die Bürgerlich- Demokratische Union (ODS) gehört, gebärdet sich radikal. Die Partei des heutigen Präsidenten Václav Klaus will Neuwahlen erreichen und versucht, sich bei den Wählern mit ultraliberalen Positionen zu profilieren. Er fordert den massiven Abbau von Sozialleistungen. Mit Vorschlägen der regierenden Sozialdemokraten setzt sich die ODS nicht auseinander – zur Bewertung reicht es ihr, dass diese dem politischen Mitte-links-Spektrum entstammen, etwa die vorgeschlagene Erhöhung der Mehrwert- und Tabaksteuer.

Für Miroslav Macek, immerhin Mitbegründer der ODS, ist eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern eine Parasitin, so schrieb er in der Prager Tageszeitung Lidové noviny. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Regierung lange eine gefällige Politik betrieb und zu stark verteilte, ohne zu haben. Aber um eine Konsensdebatte mit allgemein akzeptierten Fakten und Argumenten zu führen, dazu müssen auf der Transformationsszene Tschechiens neue (möglicherweise jüngere?) Eliten ins Spiel kommen. JAROSLAV SONKA

Der Autor ist Studienleiter an der Europäischen Akademie in Berlin