Jedem Buch eine zweite Chance

Im Ehrenfelder Literaturcafé Goldmund tauschen Leseratten Bücher und diskutieren über deren Bedeutung. 3.000 Bände warten auf Leser getreu dem Motto: „Regalhaltung ist Literaturquälerei“

Von Claudia Lehnen

Meist setzt sie ihren Schnitt zwischen dem neunten und zehnten Kapitel. Etwa an der Stelle, an der alle Verdächtigen vorgestellt, alle Opfer tot, der Kommissar aber noch ratlos ist. Sie trennt den Buchrücken sauber mit einer Schere in zwei Teile. Und wenn sie dann in der Bahn sitzt und sich gruselt ob der Grausamkeit des Mordes, schlummert die Überführung des Täters im abgetrennten Buchende zuhause auf dem Nachtkästchen. „Ein ganzes Buch möchte ich nicht mit mir herumschleppen. Deshalb schneide ich“, sagt Andrea Seidel und blickt entschlossen.

Im Gesicht der Nachbarin macht sich schieres Entsetzen bemerkbar. „Zerschneiden?“ fragt sie und jappst nach Luft. Im Leben würde ihr das nicht einfallen. Schon das mit dem Tauschen falle ihr schwer. „An 99 Prozent meiner Bücher hänge ich viel zu sehr“, sagt sie. Trotzdem nimmt sie teil am ersten Büchertausch im Ehrenfelder Café Goldmund. Sie hat sich ehrlich bemüht und ihrem Bücherschrank vier Romane entrissen, die sie nun auf die Reise schicken will. Auf die Reise zu neuen Freunden, neuen Nachttischen, neuen Ohrensesseln, neuen Bücherregalen.

Die Idee zum Büchertausch entstand im privaten Literaturkreis, der im Literaturcafé Goldmund seinen Lieblingsort entdeckt hat. Eigentlich entstand sie aber schon früher. Damals in der Küche von Barbara Röder. „Ich habe das schon mit Freunden bei mir zu Hause gemacht“, sagt Röder. Ulf Nitribitt, Inhaber des Cafés, ließ sich sofort begeistern und der Büchertausch wurde arrangiert.

Das Café ist ein guter Ort für Lesefreudige. Rund 3.000 gebrauchte, meist fremdsprachige Bücher stehen inzwischen in den deckenhohen Regalen. Und eine Bookcrossingzone gibt es hier auch. Dort liegt Lesbares, das sich auf der Wanderschaft befindet und das der geneigte Leser einfach mitnehmen kann. Im Internet hinterlässt er eine Nachricht, dass es dem Schmöker gut geht. Und wenn er ihn zu Ende gelesen hat, lässt er ihn wieder frei. Getreu nach dem Motto der Büchertauscher: „Regalhaltung ist Literaturquälerei“, wie Nitribitt es ausdrückt. Weil heute gut zwei Dutzend Leser gekommen sind, möchte der 45-Jährige den Büchertausch zu einer festen Institution machen. „In etwa acht Wochen wiederholen wir das.“

Geld sparen und Platz in der Wohnung ist für viele Tauscher die Motivation. Der 29-jährige Christian ist zwar gerade in ein größeres Zimmer gezogen. Zur Tauschbörse hat er sein Buchregal trotzdem entrümpelt. Mitleid mit dem Muschelsucher von Rosamunde Pilcher habe ihn so weit getrieben. Über Seite 15 ist er nach eigenen Angaben nie hinausgekommen. Jetzt soll das Buch bei einem melodramatisch gepolten Literaturliebhaber eine zweite Chance bekommen. „Jedes Buch findet seinen Leser“, davon ist Christian überzeugt.

Infos zum nächsten Büchertausch bei: Café Goldmund, Glasstraße 2, Köln-Ehrenfeld, 0221/534 15 84 oder www.goldmundkoeln.de