Stöbern im Müll der Vorfahren

Kölns Archäologen stehen beim Bau der Nord-Süd-Stadtbahn vor einem Dilemma: Einerseits wird das Bodenarchiv weiter zerstört, zum anderen verhilft der Eingriff den Forschern zu neuen Erkenntnissen

Von Bruno Knopp

„Nord-Süd-Stadtbahn Köln 2010: Größte U-Bahn-Baustelle Europas – wir leben das.“ Dieses Motto könnte für viele Kölner in den nächsten sechs Jahren zur täglichen Herausforderung werden. Kaum ist der Traum von Europas Kulturhauptstadt passé, da bahnt sich neben Rosenmontagszug und WM 2006 ein Großereignis von Dauer an: der Bau der vier Kilometer langen Stadtbahnröhre zwischen Dom und Großmarkt/Bonner Straße in etwa 25 Meter Tiefe bis 2010, der gerade begonnen hat.

An zehn Stellen graben sich die Ingenieure von der Oberfläche durch die bis zu 7.000 Jahre alte Siedlungsgeschichte Kölns in die Tiefe; U-Bahnrohre werden in bergbaulicher Technik unter der Stadt vorangetrieben. Sechs neue Haltestellen werden auf der Strecke Breslauer Platz, Alter Markt, Severinstraße, Marktstraße errichtet. Mehr als 550 Millionen Euro soll das Ganze kosten. Das Land NRW zahlt 90 Prozent der Summe.

Dieses größte deutsche Infrastrukturprojekt der kommenden Jahre wird die umfangreichste archäologische Grabungskampagne Europas nach sich ziehen, allenfalls vergleichbar mit den Grabungen beim Athener U-Bahn-Bau oder am Grand Louvre in Paris. Etwa 21.000 Quadratmeter archäologisch wertvollen Bodens gehen nach Schätzungen des Kölner Amtes für Bodendenkmalpflege verloren. Für die Rettungsgrabungen stehen 15 Millionen Euro bereit. Ein kleines „Fundmuseum“ in einem Container soll bereits während der Grabungen archäologische Fundstücke zeigen.

„Ich wäre glücklich, wenn es die U-Bahn-Archäologie hier in Köln nicht geben würde“, erläutert Hans-Gerd Hellenkemper, Leiter des Kölner Amtes für Bodendenkmalpflege und Chef des Römisch-Germanischen Museums. „Mein Ziel ist es immer, unnötige Löcher in der Stadt zu verhindern. Denn bei jeder Grabung geht archäologische Substanz unwiederbringlich verloren.“ Da hilft es dann auch wenig, wenn möglicherweise das ein oder andere historische Mauerwerk in die Gestaltung einer U-Bahnstation integriert werden könnte.

Die städtischen Archäologen stehen vor einem Dilemma: Einerseits wird das Bodenarchiv Kölns weiter zerstört, andererseits bietet dieser umfangreichste Eingriff in den Kölner Boden vielleicht umfassende Antworten auf viele Fragen. Zum Beispiel: Liegen im alten römischen Hafen noch Schiffe und vor allem, wann und warum verlandete er? Lassen sich am Kurt-Hackenberg-Platz und am Alter Markt Indizien für eine Umweltkatastrophe durch extreme Dürre zwischen 140 bis 150 n. Chr. finden, die zur Aufgabe des Hafens führten, wie Hans-Gerd Hellenkemper vermutet?

Hier sollen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen gemeinsam forschen. So werden Botaniker Pollenreste untersuchen, Geologen anhand der Kiesel die Strömung im damaligen Rheinbett rekonstruieren oder Biologen die Jahresringe geborgener Hölzer analysieren. Augenzwinkernd hält Hellenkemper ein Buch mit dem Titel „Müll und Marmorsäulen – Umwelthygiene in der römischen Antike“ in der Hand: „Ich freue mich auch darauf, im alten Kölner Müll zu stöbern und so den Alltag unserer Vorfahren hier am Rhein besser zu verstehen.“

Graben werden private Archäologenteams, die von den beauftragten Tiefbau-Unternehmen angeheuert wurden. Ein wahrer Preiskampf entwickelte sich in den letzten Monaten hinter den Kulissen, deutsche Minifirmen unterboten preislich sogar die als sehr gut und günstig geltenden polnischen Spezialisten. Was die scharf rechnenden Controller der Baufirmen freuen mag, sieht Hellenkemper mit Sorge. Der Amtschef für Bodendenkmalpflege spricht, von einem „gewissen Bauchgrimmen bezüglich der Grabungsqualität, wenn diese Firmen nicht Beistand von international erfahrenen Fachleuten bekommen“.

So sollen nun ab Sommer international ausgewiesene Projektleiter die Begleitung übernehmen, wenn das archäologische Eldorado unter die Lupe genommen wird. Hellenkemper freut dies, denn sein Amt ist die rechtliche Aufsichtsbehörde für die Privatarchäologen. Am 18. Juni lud der Amtschef alle Beteiligte zur Koordination des einmaligen Großprojekts ein. Bauherr, Baufirmen und Archäologen sprachen im Vorfeld ihre genauen Vorgehensweisen bei der Grabung ab. „Wir können uns keinen Flop leisten und sind zum Erfolg verdammt“, erläuterte Hellenkemper die Dringlichkeit des Treffens.

Damit die Grabungsfirmen nicht den schnellen Euro der exakten wissenschaftlichen Arbeit vorziehen, hat das Bodendenkmalamt kiloschwere Pflichtenhefte erarbeitet und die Maxime ausgegeben: „Geld gegen Manuskript“. Jeweils zum 5. des Folgemonats muss ein ausführlicher Monatsbericht über den jeweiligen Grabungsabschnitt vorliegen. Jeweils wöchentlich treffen sich in jedem Bauabschnitt die Bodendenkmalpfleger mit den beauftragten Archäologen, dem Bauherrn KVB und den Tiefbau-Firmen. Dies soll schnelles Handeln sichern. Nach den jeweils etwa 12 Monate dauernden Grabungskampagnen haben die Archäologen noch bis zu eineinhalb Jahre Zeit, um ihre Mammutgrabung in einem Abschlussbericht aufzuarbeiten.