Alles gut, Ende kommt

Nach dem halbfinalen 1:0-Erfolg gegen Tschechien ist die griechische Nationalmannschaft fest entschlossen, das von ihr geschriebene Märchen bis zum Happy End gnadenlos zu Ende zu mauern

AUS PORTO MATTI LIESKE

Jedes Mal, wenn Otto Rehhagel bei dieser Europameisterschaft einer seiner kleinen abgefeimten Streiche gelungen ist, legt er sich einen neuen Leitsatz zurecht, bevor er vor die Presse tritt. „Das ist der größte Sieg einer griechischen Mannschaft“, klang es noch etwas lahm beim Auftaktsieg gegen Portugal. „Diese Nachricht geht um die Welt“, hieß es nach dem Viertelfinalerfolg gegen die Franzosen. Diesmal, nach dem sensationellen Coup mit dem 1:0-Sieg im Halbfinale über Tschechien und dem Einzug ins Endspiel gegen Portugal, lautete die Botschaft: „Das Märchen geht weiter!“

Ein Märchen, fürwahr. „Shrek 3“ zum Beispiel könnte passen. Der grummelige alte Oger aus dem Sumpf der Vergessenheit kehrt zurück, räumt gründlich auf, bezwingt gleich mehrere Drachen und bekommt am Ende die Prinzessin – in diesem Fall einen guten Job bei einem Team, das er seiner für würdig erachtet, zum Beispiel Deutschland. Doch eigentlich ist der verblüffende Auftritt der Griechen bei diesem Turnier schon fast eine Saga. „Die sechs Arbeiten des Herkules“ würde passen. Oder auch das dreiteilige Heldenepos „Der Herr der Bälle“: zunächst „Die Gefährten“, die Selbstfindung einer verschworenen Gruppe während der Niederzwingung Portugals; dann, als Bollwerk gegen französische Selbstherrlichkeit, „Die elf Türme“ – die griechische Mannschaft besitzt nach Berechnungen einer portugiesischen Zeitung immerhin eine Durchschnittsgröße von stolzen 1,87 Metern; schließlich am Donnerstag „Die Rückkehr des Königs“, Ottos Meisterstück, die Annihilation der tschechischen Angriffsmaschinerie, die bis dahin ihre Effizienz mit zehn Toren unter Beweis gestellt hatte. Einziger Nachteil dieser Variante: Einen vierten Teil gibt es nicht. Es sei denn, Rehhagel erfindet ihn am Sonntag gegen Portugal im Lissabonner Stadion des Lichts, wo er einst mit Werder Bremen den Europacup der Pokalsieger holte.

Wie in jedem handfesten Märchen waren in den Tagen vor dem Halbfinale auch bei den Griechen schon die ersten kleineren Kalamitäten aufgetaucht. Streit um die Prämien soll es gegeben haben, was kein Wunder ist bei einer Mannschaft, für die das Überstehen der Vorrunde ursprünglich ein utopisches Ziel war. Spieler sollen sich über den gelegentlichen Kasernenhofton Rehhagels beschwert haben und über seine Angewohnheit, Erfolge allein sich selbst zuzuschreiben, auch wenn sein Mund anders spricht. Und die internationale Presse wundert sich über die Art, in der Rehhagel die meisten Fragen unbeantwortet und oft brüsk vom Tisch wischt, dafür Tag für Tag dieselben Floskeln von sich gibt. In Deutschland ist man das seit vielen Jahren gewohnt, anderswo stößt es auf ungläubiges Entsetzen.

Nach dem Match gegen die Tschechen waren jedoch alle Unstimmigkeiten vergessen, die Griechen wieder ein Herz und eine Seele, und der gestrenge Trainer gestattete sogar die Gegenwart der Frauen der Spieler bei der Siegesfeier im Hotel. Da werde man ein Glas Wein trinken, „oder auch anderthalb“, so Rehhagel, der überhaupt erst wenige Tage vor Turnierbeginn den Angehörigen der Spieler die Genehmigung erteilt hatte, nach Portugal zu reisen.

Hochgradig trübe Stimmung herrschte hingegen bei den Tschechen, die es nicht geschafft hatten, den griechischen Abwehrwall zu überwinden und das Gegentor ausgerechnet zu einem Zeitpunkt kassierten, als sie nicht mehr kontern konnten: praktisch mit dem Schlusspfiff der ersten Verlängerungshälfte, was nach der zum letzten Mal angewandten Silver-Goal-Regel den zweiten Durchgang erübrigte. Es sei in seinen drei Jahren Amtszeit und in 30 Spielen das erste Gegentor nach einem Eckstoß gewesen, klagte Tschechiens Coach Karel Brückner, zudem nach einem unnötig heraufbeschworenen.

Doch der wesentliche Grund des Scheiterns war nicht das Tor, sondern die Unfähigkeit der Tschechen, selbst eines zu erzielen. Auch ein Elfmeterschießen hätten wohl mit ziemlicher Sicherheit die stabilen Griechen gewonnen. Dabei zeigten die Tschechen gegen die erstickende Defensive der Hellenen – anders als Frankreich – sehr wohl, wozu sie imstande sind. „Das beste tschechische Team, in dem ich je gespielt habe“, so Kapitän Pavel Nedved, setzte den Gegner sofort unter Druck, ließ ihn nicht zu seiner gewohnten Anfangsoffensive kommen und erlaubte ihm so gut wie keine Torchance. Als Rosicky in der 3. Minute mit voluminösem Schuss die Latte traf, ahnte allerdings niemand, dass das für lange Zeit die beste Gelegenheit bleiben würde. Viel zu selten brachte das ansehnliche Passspiel gefährliche Aktionen in Strafraumnähe hervor, was hauptsächlich daran lag, dass der zunehmend hadernde und verzweifelnde Jan Koller kaum einen Stich gegen Mihalis Kapsis bekam und Torjäger Milan Baros ganz selten an Georgios Seitaridids, dem besten Verteidiger dieser EM, vorbeikam. Und natürlich an der Verletzung von Nedved, der kurz vor der Halbzeit rausmusste und dessen Dynamik bitter vermisst wurde.

Wenn sie gezwungen werden, permanent auf höchstem Niveau zu verteidigen, machen auch die standfesten Griechen irgendwann Fehler. Diese muss man dann aber nutzen, und als Koller und Baros dies nicht taten, nahm das Unheil für die erlahmenden Tschechen seinen Lauf.

Natürlich hätten diese die bessere „Ballzirkulation“ gehabt, sagte Rehhagel, „aber im Fußball entscheiden manchmal andere Dinge. Es gewinnt nicht immer der Bessere.“ Vor allem nicht im Märchen.