Die Natur ist kein Lego-Bausatz

Die öffentliche Diskussion über gentechnisch veränderte Nahrungsmittel wird zunehmend kontaminiert durch den Reklamemüll von Aufklärungsschriften, welche die auf diesem Gebiet tätige Industrie unters Volk wirft. Staunend liest man da zum Beispiel, dass, wer kein Genfood essen möchte, gar nichts mehr essen darf, weil jedes Lebewesen nun einmal Gene enthält. Die zweifellos Erfolg versprechenden Bemühungen, unkundigen Konsumenten derart Sand in die Augen zu streuen, gipfeln in der Behauptung, dass das, was die Gentechniker tun, nichts anderes sei als das, was „die Natur“ schon seit Jahrmilliarden praktiziert und der Züchter seit Jahrtausenden.

Dies ist wohl das scheinheiligste Argument zur Verteidigung genetischer Bastelarbeiten und ein hübsches Beispiel dafür, dass eine halbe Wahrheit oft noch übler ist als eine ordentliche Lüge. Zum einen hat „die Natur“ immer nur in winzig kleinen Schritten eher zögerlich ausprobiert, was unsere kühnen Gen-Ingenieure jetzt ganz auf die Schnelle hinzukriegen trachten. Darin liegt mehr als ein nur gradueller Unterschied. Zum anderen ist die Natur stets innerhalb enger Verwandtschaftsgrenzen geblieben und hat damit genau jene Schranken respektiert, die die Gentechnik gerade zu überwinden sucht – mit dem Endziel, jedem Organismus jede gewünschte Eigenschaft irgendeines anderen Organismus einpflanzen zu können, als wäre „die Natur“ ein Lego-Bausatz, aus dem man nach Belieben zusammenfügen kann, was einem gerade praktisch und rentierlich erscheint.

Die schönen Zukunftsbilder von gentechnisch optimierten Esswaren erinnern fatal an die Versprechungen der Atomtechniker vor fünfzig Jahren: dass man mit einer Hand voll Uran eine Großstadt drei Jahre lang mit Licht und Wärme versorgen könne. Was da an Risiken im Weg lag, wurde ignoriert oder bagatellisiert, und jene, die davor warnen wollten, taten sich schwer, ihre Bedenken zu rechtfertigen, denn das Wissen war noch lückenhaft, der Optimismus der Macher grenzenlos und Tschernobyl und die Atom-U-Boote in der Barentsee konnte man zwar vage erahnen, aber solche Ahnungen galten den Technikern als Hirngespinste neurotischer Laien. Ganz ähnlich verhält es sich derzeit mit dem, was die Agrarindustrie die „grüne Gentechnik“ nennt, – wobei sie gern das Missverständnis in Kauf nimmt, „grün“ sei auch hier ein Kürzel für „natürlich“und „gesund“, und außerdem davon profitiert, dass das Hantieren mit Pflanzen immer noch als ziemlich harmlos angesehen wird, verglichen mit dem Klonen und Reparieren von Tieren und Menschen.

Die Verheißungen klingen abermals verlockend. Größere Ernten, nahrhaftere Früchte, Resistenz gegen Schädlinge und Krankheiten, folglich Einsparung umweltschädlicher Pestizide, Hilfe im Kampf gegen den Hunger in den Entwicklungsländern und – auf ein paar leere Schwüre kommt es ja nicht an – vitaminreichere Pflanzen, die vor Krebs schützen können. Denen, die da Gefahren lauern sehen, ergeht es ähnlich wie damals den Atomkraftgegnern: Sie können allenfalls Vermutungen äußern, ihre Befürchtungen bleiben notwendig vage, nur der Hohn der Experten ist ihnen gewiss.

Dabei haben auch diese Experten nicht die leiseste Ahnung davon, wie sich die genetischen Veränderungen, die so eilig betrieben werden, auf ökologische Zusammenhänge und auf die Gesundheit der Menschen auswirken werden. Mit ein paar Allergietests und Bestäubungsexperimenten ist das nicht zu ermitteln; und nur in Umrissen ist vorherzusehen, was es für die Entwicklungsländer bedeutet, dass sie dank einer industriefreundlichen Patentgesetzgebung von Chemiemultis abhängig werden, von denen sie zugleich mit dem Saatgut die passenden Herbizide kaufen müssen.

Da ahnen wir die Grundzüge der schönen, neuen Agrarwelt, und wir können ermessen, bis zu welchem Grade die so genannte Natur dereinst nicht mehr sich selbst und uns allen gehören wird, sondern denen, die sich schamlos Patente auf dasjenige erteilen lassen, was sie dieser Natur an Missgeburten und Kunsterzeugnissen abgenötigt haben.

Wohl gibt es Widerstand, Protest. „Verbrennt Monsanto!“, hieß es in Indien, und Prinz Charles äußerte sich etwas gesitteter, es seien „Teile der Umwelt in Gefahr“. Auch warnte eine Studie der Deutschen Bank die Anleger, der Widerstand im Publikum könne die Aussichten von Biotechnik-Aktien schmälern. Und manche Müslikäufer achten sehr darauf, ob auf der Packung steht, dass nur gentechnikfreie Zutaten verwendet wurden.

So geht vielleicht alles seinen schleichenden Gang wie bei der Atomtechnik: Man macht einfach weiter, während das Publikum, soweit es überhaupt Anteil nimmt, in Detaildiskussionen eingeschläfert wird, so lange, bis etwas passiert.

Dann erst wenn es kein Zurück mehr gibt, wird klarer zutage treten, was jetzt noch von nebligem Fachmanngeschwätz verhüllt bleibt: dass man hier wieder einmal, blind stolpernd, eine Grenze überschritten und ein Gebiet betreten hat, auf dem die Schlauheit der Menschen unweigerlich den uralten und im Ernstfall gnadenlosen Prinzipien der Natur unterlegen bleibt; die pfiffigsten Vorauskalkulationen erweisen sich als irrig, und den Ethikkommissionen bleibt vor Staunen der Mund offen stehen: Damit hatten sie nicht gerechnet.

Die Verbote der Natur kann man in keinem Gesetzbuch nachschlagen, und die Ethik bleibt eine Sache von Gewöhnung und Vereinbarung und folglich, wie die letzten Jahre gezeigt haben, leicht opportunistisch abzuwandeln. Zur Erinnerung: Gar manches von dem, was heute alltägliche Praxis ist, hätte vor fünfzig Jahren nicht nur als unmöglich, sondern als ganz und gar ungehörig gegolten.

Die Schmetterlinge, die an Genmais sterben, die Samen, die der Umsatzmaximierung zuliebe nicht mehr keimen dürfen – das sind Sinnbilder für die Denaturierung einer Natur, die man, indem man ihre Lebenszusammenhänge zerreißt, beständig zu verbessern vorgibt: Endlich wird sie erfahren, was sie alles falsch gemacht hat und wie sie es eigentlich hätte einrichten sollen.

Die Grenzen für diese Machenschaften setzen sich die Gen-Ingenieure selbst, das Europäische Patentamt folgt ihnen willig, und auf irgendeiner Anhörung wird dann die nächste Grenzverlegung vorbereitet. Nur: Die Natur nimmt an diesen Verabredungen nicht teil. Sie zeigt immer erst etwas später, wo sie die Grenze gezogen hat.

Soll man dann überhaupt noch darüber schreiben und reden? Soll man dem Kapitel des biotechnischen Amoklaufs, das da eben nicht nur geschrieben, sondern unbekümmert in lebenden Wesen zur Wirklichkeit wird, noch Fußnoten beifügen, die in den Laboratorien nur Gelächter erregen?

Die Fußnoten zur Atomeuphorie vor dreißig und vierzig Jahren haben ja auch nichts zu verhindern vermocht; sie haben, von heute aus gesehen, nur den Effekt gehabt, dass wir sagen können, die frohgemuten Techniker seien sehenden Auges in das Dilemma gestürmt, in dem sie sich jetzt mit ihren dicken Castoren und ihrer verzweifelten Suche nach Schlupfwinkeln für den Inhalt überquellender Abklingbecken befinden. Wir können sagen, dass all dies im Prinzip vorhersehbar war und vorhergesehen worden ist und dass die damals beliebte technokratische Floskel von der „prozessbegleitenden Problemlösung“ sich als so tollkühn erwiesen hat, wie sie manchen von Anfang an erschien.

Das ist wahrhaftig kein besserwisserischer Triumph, vielmehr ist Trauer darin. Über die Vergeblichkeit der Warnungen, über die angerichtete Verwüstung und über die künftige Bedrohung, die noch währt, wenn aller Strom längst verbraucht ist.

Fußnoten also sind es geblieben. Aber sie bleiben unter dem Text stehen und bezeugen, dass da Menschen waren, die zwar durchaus nicht alle Argumente kannten und die sich oft genug verhedderten, wenn sie die Argumente der Fachleute zu entkräften trachteten – die aber in einer heiligen Scheu sehr wohl ahnten, ja wussten, dass da eine Scheidelinie überschritten werden sollte, deren Nichtbeachtung den Preis des Verderbens fordern würde. Die „heilige Scheu“ ist obsolet geworden, weil sie sich einfältig und starrsinnig gegen alle Nützlichkeitserwägungen sperrt und einfach nur darauf insistiert, dass es für das menschliche Tun Schranken gibt, die sich „von selbst“ verstehen und keiner Rechtfertigung bedürfen. Was da als Einfalt daherkommt, ist ein Grundentschluss jenseits von Beweis und Gegenbeweis, jenseits von Nützlichkeit und Wünschbarkeit, jenseits der Schlauheit, die auf den offenkundigen Vorteil pocht.

„Das tut man nicht“ ist ein schwaches Argument, aber es will ja auch gar keines sein, vielmehr eine Beschwörung, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Wo solche Beschwörung nicht mehr gehört und nicht mehr verstanden wird, da bleiben auch die Argumente kraftlos. Wer, um des Profits willen, Pflanzen züchtet, deren Samen kein neues Leben mehr bergen, und wer da nicht von Entsetzen, sondern von diebischer Freude ergriffen wird, den kann man mit Argumenten nicht erreichen – freilich auch nicht mit dem Hinweis auf eine heilige Scheu.

Warum dann dem Fortschritt, der sich unweigerlich vollzieht, noch Fußnoten in den Weg werfen, über die er kaum stolpern wird? Warum immerzu rufen: „Das tut man nicht“, wenn es doch unentwegt getan wird?

Weil die Widerrede nicht erst durch Aussicht auf Erfolg gerechtfertigt wird, sondern ihre Rechtfertigung anderswoher holt: aus einer Pflicht, auch in aussichtsloser Lage jenen Grundentschluss zu bekennen. Wenn es denn unmöglich erscheint, die Amokläufer mit Argumenten aufzuhalten, so ziemt es sich doch, ihr Triumphgeschrei mit dem Ostinato zu beantworten, dass ihre Argumente nur kühne Versprechungen, ihr vorgespieltes Wissen nur verkleidete Ahnungslosigkeit und ihr Erfindermut nur blinde Verwegenheit ist. Dass die Warnrufe folgenlos bleiben, ist so gut wie gewiss, aber es bleibt geboten, die fortschreitende Demolierung der Welt und des Lebens zu benennen und zu beschreiben.

Es kann ja sein, dass es gerade diese einfältige Impertinenz ist, die wenigstens eine Ahnung davon wachhält, dass es jenseits aller Zweckmäßigkeiten Grenzen des Schicklichen gibt, die nicht zu beachten weit riskanter ist als jede versäumte Gelegenheit.

Text erschienen in: Hans Werner Ingensiep und Anne Eusterschulte (Hrsg): „Philosophie der natürlichen Mitwelt. Grundlagen – Probleme – Perspektiven“. Würzburg 2002. Mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Verlags Könighausen & Neumann