Traurig, traurig

Simulationsberlinerisch für Anfänger und andere Nachlässigkeiten: Wieso P.R. Kantate mit seinem Berlin-Song „Görli Görli“ trotz Heavy Rotation niemals den großen Sommerhit landen wird, den sich seine Plattenfirma erträumt

Ein Sommerhit ohne Sommerhit-Tanz: ein unverzeihlicher Fehler

Seit Montag steht P.R. Kantates „Görli Görli“ nun endlich in den Plattenläden. Nachdem einschlägige Radiostationen ihre Hörer in den letzten Wochen nur sehr unregelmäßig (etwa alle 10 Minuten) mit dem Titel befeuerten, ist das Verlangen nach dem Schlager mittlerweile derart gewachsen, dass er innerhalb von nur einem Tag aus den Top 80 in die Top 30 der aktuellen Trendcharts klettern konnte. Alles in allem kann man hier von einem schönen Sieg der Musikindustrie sprechen, und auch der Künstler P.R. Kantate wird sich gewiss sehr darüber freuen.

Uneingeweihten, die den Song bislang noch nicht zu hören bekamen, sei dabei kurz erläutert, dass es sich bei „Görli Görli“ um einen so genannten Berlin-Song handelt, der sich inhaltlich auf Orte und Straßen der Stadt bezieht und dabei auf ihre jewieligen Besonderheiten einzugehen weiß: „Kaffe trinken kannse am Helmi Helmi / Andre Drogen holen am Hermi Hermi / Mein Vata wohnt Savigny Savigny / Und meene Mutta am Breslaua.“

Weil P.R. Kantate dabei sogar von relativ rätselhaften Örtlichkeiten wie „Ritschi Ritschi“ oder „Fritze-Willi“ singt, darf man annehmen, dass der Künstler seine Stadt möglichweise genauer als manch anderer Berliner kennt. Man könnte von dem Stück daher etwas lernen. Das Besondere an dem Titel ist allerdings nicht, dass P.R. Kantate seine profunden Berlinkenntnisse hier zur Liedform verdichtet, sondern dass er seine Verdichtung in einem Idiom vorträgt, bei dem es sich nur vorgeblich um Berlinerisch handelt – er trägt sie sozusagen in einem einwandfreiem Simulationsberlinerisch vor.

Und weil es sich bei diesem Simulationsberlinerisch um eine völlig neuartige Mundart handelt, kann P.R. Kantate sie auch noch nicht so besonders schnell und flüssig singen – das ist verständlich. Doch weil der Titel bekanntermaßen auf Sophia Georges beschwingtem Gassenhauer „Girlie, Girlie“ basiert, klingt „Görli Görli“ trotz der im Grunde brillanten Idee leider viel zu lahm. Ein erster Minuspunkt in dieser ansonsten makellosen Erfolgsgeschichte.

Ebenfalls ist zu bedenken, dass es sich bei „Görli Görli“ schon deshalb nicht um den versprochenen Sommerhit des Jahres 2003 handeln kann, weil ihm für den Sommerhit-Status bestimmte Sommerhit-Voraussetzungen fehlen. So braucht ein ordentlicher Sommerhit zwingend einen dazugehörigen Sommerhit-Tanz. Man denke nur an den „Lambada“, den „Mambo No. 5“ oder den unvergesslichen „Ketchup“-Tanz. Auch wenn der „Görli Görli“ für jede moderne Tanzschule zweifellos eine Bereicherung wäre, man hat von diesem Tanz bislang noch nichts gehört.

An dieser Stelle hat sich die zuständige PR- und Marketingabteilung der Plattenfirma offenbar einen schweren und unverzeihlichen Fehler geleistet. Dass „Görli Görli“ darüber hinaus seinen Weg nach Berlin nicht, wie es sich für einen Sommerhit bislang eigentlich gehört, über ferne Urlaubsorte nahm, sondern quasi mitten im Berliner Kiez entstand, spricht ebenfalls gegen seine vorgebliche Sommerhit-Qualität. Höchstens außerhalb Berlins könnte der Titel daher zu einem Sommerhit werden, um dann als solcher wieder nach Berlin reimportiert zu werden.

Weil aber niemand in Berlin Urlaub macht, kann ihn auch keiner von hier nach dort befördern. Und weil auch der durchschnittliche Berliner sich längst keinen Urlaub mehr leisten kann, bleibt das Lied da, wo es ist, und der Berliner hört, was er verdient. Was sind das für traurige Zeiten.

HARALD PETERS