Trojanischer Größenwahn

In den kulturwissenschaftlichen Studiengängen der Universität Hildesheim wird in Theorie und Praxis gleichermaßen ausgebildet. Höhepunkt dabei: Alle arbeiten ein Semester lang an einem Thema und präsentieren der Öffentlichkeit ihre Arbeitsergebnisse. Das Thema in diesem Jahr: „Antike intermedial“

AUS HILDESHEIM KERSTIN FRITZSCHE

Marktschreierische Aktivitäten auf der Agora: Weiß gewandete Nachwuchs-Götter, elegant gekleidete Mythologie-Experten und gleich sechs knallbunte Europas werben Publikum. Im Angebot: Freischwimmen mit Medea im Blutbad, die Orestie auf dem Catwalk oder eine postmoderne Internet-Odyssee. Doch die, die da schreien, sind im wirklichen Leben Studierende der Studiengänge „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ und „Szenische Künste“ an der Universität Hildesheim und die Agora des Jahres 2004 ist im Alltag der Innenhof des Gutshofs Domäne Marienburg, der zur Uni gehört.

Rund 200 Neu-Hellenen haben sich unter dem Motto „Antike intermedial“ im so genannten Projektsemester drei Monate lang wissenschaftlich und künstlerisch mit antiken Sagen und Mythen, aber auch deren Neubearbeitungen auseinander gesetzt. Herausgekommen sind dabei 18 in sich abgeschlossene Performances, Theaterstücke, Filme, Radiofeatures und Internetprojekte mit so unterschiedlichen Schwerpunkten wie Geschlechtermythologie, Erinnerungsarchivierung, Heimatgefühl oder verbotener Liebe.

So beleuchtet beispielsweise „Freischwimmen! Mit Medea im Blutbad“ eine Medea, die nicht dem traditionellen, von männlichen Autoren transportierten Bild der bedrohlichen Weiblichkeit entspricht. Um Medeas Kampf zu verdeutlichen, gingen die drei Schauspielerinnen auch körperlich an ihre Grenzen und bewegten sich im alten, mit Efeu behangenen Pool die ganze Spielzeit über in eiskaltem Wasser. Dort kombinierten sie Textpassagen von Heiner Müller und Hans Henny Jahnn zu einer szenisch unterfütterten „Textlandschaft“.

Die Filmminiaturen „Szenen einer Odyssee“ wiederum konzentrieren sich darauf, die Irrfahrten vor allem als „Szenen einer Ehe“ zwischen Verrat und Sehnsucht, Treue und Heimkehr darzustellen. Diese Zerrissenheit wird auch in der Präsentation als Installation auf fünf Monitoren symbolisiert.

Für den Zuschauer bedeutet die Präsentation der Arbeitsergebnisse aus dem Projektsemester, aus 18 Einzelproduktionen an 14 Spielorten zu wählen – insgesamt sieben Stunden Programm haben die Studierenden auf die Beine gestellt. Was wie trojanischer Größenwahn aussieht, ist ein in Deutschland einzigartiges Ausbildungskonzept: Gemäß dem Gedanken, dass man nur vermitteln kann, was man selbst erfahren hat, bildet die Hildesheimer Universität im Studiengang „Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis“ seit 1979 KulturvermittlerInnen aus. Die bekommen als Studienabschluss ein Diplom und sind Allroundtalente, weil sie lernen, interdisziplinär zu arbeiten und in den einzelnen Kunstsparten Theorie und Praxis zu verknüpfen; eine „Ausbildung in den Künsten für die Künste“, wie es Professor Hans-Otto Hügel, Deutschlands einziger Professor für Populäre Kultur, einst nannte. Seit drei Jahren gibt es außerdem mit dem gleichen Konzept den medien- und theaterspezifischen Studiengang „Szenische Künste“.

Im Sinne des Ausbildungskonzepts ist das Werben und Schreien auf der Agora als Trockenübung für das Leben nach dem Studium anzusehen, denn später sind die AbsolventInnen nicht nur TheatermacherInnen, SchauspielerInnen, RegisseurInnen oder MuseumspädagogInnen, sondern auch KulturmanagerInnen: Sie kümmern sich ums Sponsoring, machen ihre Programmhefte selbst und wissen, wie gute Öffentlichkeitsarbeit aussieht. Um die Marienburg zur Polis zu machen, kümmern sich die „Kuwis“ selbst um Bühnenbild und Kostüme, und die Ergebnisse der Theaterfotografie erfahren eine Mehrfachverwertung: als Ausstellungsobjekte, Programmheft-Bebilderung und hauseigene Pressefotos. Das Projektsemester hat den Vorteil, dass es Rahmenbedingungen und Arbeitsfelder „wie im richtigen Leben“ schafft.

Da diese Arbeitsweise Zeit braucht, gibt es seit 1992 das alle zwei Jahre stattfindende Projektsemester: „Ich habe schon in den 80ern Theaterprojekte gemacht, und da ist uns recht schnell aufgefallen, dass ein Seminar nicht reicht. Mit der Zeit entstand die Drei-Tage-Regelung, also die Studierenden arbeiten das ganze Semester mittwochs bis freitags nur an einer Sache, da ist eine ganz andere Arbeitseinlassung möglich“, erklärt Professor Hajo Kurzenberger vom Institut für Medien- und Theaterwissenschaft.

Doch noch nie war das thematische Projektsemester so groß wie in diesem Jahr: Vier Institute sind beteiligt, deren Studierende die Bereiche Theater, Musik, Medien und Fotografie eindrucksvoll zum Gesamtkunstwerk verzahnen. Weitsichtige Produktionsleitung war dafür nötig, übernommen haben die Stefanie Riedner und Kristina Stang. Beide sind sich einig, dass die drei Monate Stress sich lohnen: „Hier arbeitet man an etwas Konkretem, sieht die Auswirkungen seiner Arbeit sofort und hat am Ende ein Ergebnis“, sagt Stang. Denn im Gegensatz zu den Akteuren im alten Griechenland haben die Hildesheimer „Kuwis“ nicht auf göttlichen Beistand hoffen können.

weitere Aufführungen von „Antike intermedial“: 6./7. Juli, 19:30 Uhr, 9./11. Juli, ab 16 Uhr. Karten unter ☎ 0 51 21- 883 680. Weitere Informationen: www.antike-intermedial.de