Wir haben keinen Verein

Brasilien gilt als die Fußballnation schlechthin, dabei führten die Engländer erst Ende des 19. Jahrhunderts den Fußball in Brasilien ein. Zunächst ein Sport der Reichen, avancierte futebol ab den 20er-Jahren zum Volkssport, an dem auch afrobrasilianische Spieler teilhaben durften. Die meisten Spitzenvereine kommen heute aus São Paolo. Die ersten brasilianischen Spieler in der deutschen Bundesliga waren in den 1960er-Jahren Zezé und Tagliari, beide ohne großen Erfolg. Heute spielen laut Deutscher Fußball Liga 39 Brasilianer in der Erst- und Zweitliga. TAZ

VON CHRISTOPH WÖHRLE
(TEXT) UND PAULO FRIDMAN (FOTOS)

Wenn Edson Moraes Filho einen Pass aus 50 Metern annimmt, sieht er ein bisschen aus wie ein Balletttänzer. Er streckt den Fuß und hebt den Arm – schon klebt die Kugel an seinem Spann. „Doppelpass!“, ruft er und schlenzt sie grazil weiter. Er tänzelt über den Platz. Zehn Uhr morgens, 30 Grad im Schatten. In São Paulo trainiert die Mannschaft der Verlierer. „Talentos do Futebol“ nennen sie sich – Fußballtalente.

Sie alle haben eins gemein: Sie sind arbeitslose Kicker im Land des Fußballs. Ausgemusterte Profispieler oder Jugendliche, die den Sprung in den bezahlten Fußball bislang nicht geschafft haben. Und sie wollen alle dasselbe: aufsteigen, in den Profifußball.

„Bei uns landen die schwierigen Fälle, und wir päppeln sie wieder auf“, sagt Trainer Rubens Correa, den alle nur Rubão nennen. Gerade psychologisch sei seine Arbeit extrem anspruchsvoll: „Es hängt doch eigentlich alles am Selbstbewusstsein der Spieler. Sie müssen denken: Ich kann das schaffen!“ Libellen schwirren über den roten Schotterplatz wie kleine Senkrechtstarter. Der Himmel ist wolkenverhangen, was die Hitze noch drückender macht. „Lauf schneller“, bollert Rubão zu Edson rüber. Der 21-Jährige trabt in Richtung Mittellinie. Er muss sich an das Tempo erst noch gewöhnen. „Ja, ja“, japst er. Mit schönem Spiel allein wird man kein Profi.

Die Idee für das Projekt entstand vor drei Jahren in den Reihen des Zweitligisten Nacional Atlético Clube in São Paulo aus einer Stammtischlaune heraus. Sie schien revolutionär: Professionelle Trainingsbedingungen für solche, die im Leistungssport keiner mehr haben will. 350 Real bezahlt jeder der 31 Spieler bei Talentos do Futebol. Das sind etwa 130 Euro – ein ganzer brasilianischer Mindestlohn. Dafür bekommen sie alles, was auch ein richtiger Club bietet: Hart- und Rasenplätze, Kraftraum, Massage, Wasseraerobic, Spielpraxis.

„Wir nehmen jeden auf, der es versuchen will“, sagt Trainer Rubão. Oft kratzt die ganze Familie des Spielers unter großen Entbehrungen Monat für Monat den Beitrag zusammen. Die Hoffnung: Irgendwann zahlt sich das für alle aus.

Am Anfang hieß das Projekt noch anders: „Tô! sem clube“ – „Ich bin ohne Verein“ – stand auf den Trikots der Spieler. „Das wirkte zu negativ. ‚Fußballtalente‘ klingt viel frischer“, sagt Mario Hila Rocha, Marketingdirektor bei Nacional Atlético. Er klappt seinen Laptop auf wie ein heiliges Buch, um die Erfolge von Talentos do Futebol vorzuführen. Immerhin: Zwei Spieler brachten es jüngst zu brasilianischen Erstligisten. Vor zwei Jahren wurde Moreno Aoas Vidal zum FC Schaffhausen in die Schweiz transferiert. Das mutet spärlich an, die breite Masse gibt irgendwann auf. Was Rocha nicht erzählt: Der Gründer des Projekts, Paulo Sérgio Tognasini, den alle „Paulinho“ nennen, hat den Verein längst verlassen. Die Idee warf langsam Geld ab, und schon stritten die Vereinsfunktionäre darüber, wem dieses zustünde.

Der Fußballverband des Bundesstaates São Paulo schätzt, dass allein dort 6.000 arbeitslose Kicker leben. Eine Gewerkschaft wie in Deutschland die Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VDV), die sich um diese Klientel kümmert, gibt es in Brasilien nicht. Allein 1.000 Spieler verlassen Brasilien Jahr um Jahr ins Ausland. Ob an den Flussläufen des Amazonas oder in den Slums von Rio de Janeiro – überall wachsen sie heran, die neuen Ronaldinhos. Und überall lauern sogenannte olheros, die Talentspäher. Es sind so viele, wir schaffen es noch nicht einmal, alle potenziellen Superspieler rechtzeitig zu entdecken“, sagt Talentspäher Wildson Magalhães. Er bereist den gesamten Bundesstaat São Paulo – immer auf der Suche nach neuen Rohdiamanten des Sports.

Für ihn bedeuten die Spieler: Geld, Gewinn, Prozente. Dass viele auf dem Weg nach oben straucheln, dass bei einigen schwere Verletzungen die Träume zunichtemachen, dass wieder andere dem psychischen Druck nicht standhalten – all das interessiert ihn nicht. „Wir sind doch nicht von der Kirche“, sagt er mit schnarrender Stimme. Paul Breitner, Weltmeister von 1974, sieht gerade in der Armut Brasiliens den Motor für fußballerischen Erfolg des Landes: „In Deutschland konnte man nach dem Zweiten Weltkrieg durch Fußball sozial aufsteigen; das ist heute passé, uns geht’s zu gut. Deshalb bringt Brasilien mehr Talente hervor.“

Für Edson Moraes Filho schien alles bestens zu laufen. Der zentrale Mittelfeldspieler spielte im vergangenen Jahr beim Schweizer Drittligisten FC Grand-Saconnex und wechselte dann zu Castelnuovo Garfagnana, 3. italienische Liga. „Alles war perfekt, aber dann bekam ich Probleme mit dem Visum.“ Edson hat angeblich italienische Vorfahren und wollte sich einbürgern lassen. Denn mehr als drei Nichteuropäer dürfen in den europäischen Profiligen nicht auf dem Platz stehen. Doch sein Name war auf einem Dokument falsch geschrieben. Die Italiener witterten Betrug – Edson war draußen. Hinzu kamen Meniskusprobleme.

Edson wohnt jetzt wieder zu Hause bei seiner Mutter im Mittelklassestadtteil Tatuapé und träumt weiter von Europa. An der Wand hängen Bilder von Basel und dem Matterhorn. „Ich würde gerne in Deutschland spielen“, sagt Edson. Er trägt die pechschwarze Haartracht im Schweini-Look. Seine Mutter Ivanilde Madrona unterstützt ihn. „Edson hat den Fußball im Blut.“ Während seine Kumpels den ersten Joint durchzogen, ging Edson eisern trainieren.

Für Edsons Mitspieler Wendel Ribeiro Nunes, 20, kommt ebenfalls nichts infrage außer einer Fußballerkarriere. Er stammt, anders als Edson, aus wirklich ärmlichen Verhältnissen, und für ihn bedeutet Fußball den Aufstieg. „Ich will meine Familie damit ernähren.“ Seine Eltern, der Bruder, die Schwester – alle hoffen mit ihm darauf, dass er bald wieder Geld mit dem Kicken verdient. Wendel sitzt auf dem Trainingsplatz im Schneidersitz. Auf sein weißes Trikot ist neben dem Projektnamen die brasilianische Flagge aufgedruckt. Seit vier Monaten ist er schon bei Talentos do Futebol. Davor hat er für den Zweitligisten Kashima Antlers im Bundesstaat Paraná Linksaußen gespielt. „Aber dann hat der Sponsor dem Verein den Vertrag gekündigt, und ich wurde wegrationalisiert“, sagt Wendel grimmig. So langsam wird er nervös: „Fußball ist doch das Einzige, was ich gut kann.“

Viele im fünftgrößten Land der Welt können nur Fußball. Mittlerweile wird aber wenigstens darauf geachtet, dass die allerjüngsten Talente nicht schamlos verschachert werden: das Fifa-Reglement bezüglich Status und Transfer von Spielern, Artikel 12, verbietet den Wechsel von unter 18-Jährigen in die EU. Möglich wird der nur, wenn die Eltern „aus Gründen, die nichts mit dem Fußballsport zu tun haben, Wohnsitz im Land des neuen Vereins“ nehmen. Seit 2001 will der Weltverband so den Kinderhandel als verantwortungsloses Talentehamstern verhindern. Heraldo Panhoca, einem Anwalt für Sportrecht in São Paulo, genügt das trotzdem noch nicht. „Es wird getrickst, wo es nur geht.“ Oft nähmen die Eltern dann zum Schein eine Arbeit im Zielland an.

„Es ist sehr schwierig, mit über 18 Jahren im brasilianischen Profifußball noch etwas zu werden“

Panhoca hat am brasilianischen Lei Pelé mitgeschrieben, einem Gesetz, das ebenfalls dazu dient, dass Talente nicht verheizt werden. Bis 14 darf ein Spieler nicht als Athlet eingestuft werden, er ist Kind, weder professionelles Trainieren noch höhere Ligawettbewerbe sind erlaubt. Ein Profivertrag darf erst mit 16 unterschrieben werden. „Leider scheren sich Vereine und Eltern oft nicht darum.“ Trotz der Gefahren, wie eine Studie der Universität São Paulo offenbart: Drei von vier Kindern, die mit unter 14 Jahren in Brasilien Leistungssport betreiben, stecken vor ihrem vollendeten 17. Lebensjahr wegen psychischer oder körperlicher Überlastung auf. Auch Edson und Wendel haben ihre Körper von klein auf geschunden. „Viele Talente sind schon kaputt, ehe sie überhaupt in höheren Ligen kicken“, sagt Panhoca. Er weiß aber auch, dass in einem armen Land ein craque – so werden die Wunderknirpse genannt – jemand ist, von dem viele profitieren wollen: Talentspäher, Berater, Clubs, die eigene Familie.

Trainer Rubão will zu Wendel oder Edson keine Prognose abgeben: „So genau kenne ich sie nicht. Ich weiß nicht, ob sie es schaffen können“, bemerkt er ausweichend, während er einen Einkaufswagen voller Fußbälle vom Platz schiebt. Später beim Mittagessen räumt er ein: „Es ist sehr schwierig, mit über 18 Jahren im brasilianischen Profifußball noch etwas zu werden.“ Der Markt schreie nur nach den jungen Talenten. Sie seien für den europäischen Markt doch viel interessanter.

Edson und Wendel sind heute beim Training auch ein paarmal ausgespielt worden. Der Star bei Talentos do Futebol ist der 16-jährige Jardel. Er muss die Teilnahmegebühr nicht bezahlen. „Den werden wir sicher bald an einen großen Club vermitteln“, feixt Rubão. Der Verein überlegt nun, mit dem Projekt in andere brasilianische Großstädte zu expandieren. Rubãos Vorgänger Ivair Ferreira war als Trainer der Arbeitslosenmannschaft vor sieben Monaten entlassen worden. Er hatte sich am Verkauf von Talenten persönlich bereichert.

Drei Monate später: Edson hält sein Handy ans Ohr und ruft den Reporter in Deutschland an. Er klingt weinerlich: „Ich bin wieder in Italien. Aber die wollen mich nicht mehr. Ich bin wieder ohne Club.“ Wenn die Leistung nicht gleich stimmt, drängen schon die nächsten Talente nach. Und mit 22 ist er jetzt eigentlich schon zu alt. Die echten Supertalente schaffen den Durchbruch lange vorher – oder nie.

„Kannst du mich nicht an einen deutschen Club vermitteln?“, fragt Edson. Stille in der Leitung. „Oder weißt du: Ich würde auch etwas anderes arbeiten. Kellner in einer Bar vielleicht. Hauptsache, ich kann Geld verdienen. Scheiße!“ Edson ist nur einer unter vielen, die es nicht geschafft haben. Aber der Traum bleibt. Talentos do Futebol wird der Nachwuchs nicht ausgehen.