45 Minuten spielen keine Rolle

Die Beschränkung Huttons auf die Todesumstände Kellys lässt die Frage außen vor, wie die Regierung das Geheimdienstdossier zum Irak benutzt hat

Hutton: „Keineswegs eine Gerichtsverhandlung gegen die eine oder die andere zweier Konfliktparteien“

von RALF SOTSCHECK

Es begann mit einer Schweigeminute. Der britische Lordrichter Brian Hutton eröffnete gestern die Untersuchung zum Tod des Wissenschaftlers David Kelly, der gestern vor zwei Wochen in der Nähe seines Hauses in Oxfordshire mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden worden war. Seine Untersuchung sei „durch einen tragischen Todesfall ausgelöst“ worden, sagte Hutton, und es sei daher angebracht, sich im Gedenken an den Wissenschaftler zu erheben.

Kelly stand im Mittelpunkt eines heftigen Streits zwischen der Regierung und der BBC, der seit Mai immer schärfere Formen angenommen hat. Der Sender hatte damals im 4. Radioprogramm berichtet, dass Premierminister Tony Blairs Kommunikationsdirektor Alastair Campbell dafür gesorgt habe, ein Geheimdienstdossier vom September vergangenen Jahres „sexier“ zu machen und die vom Irak ausgehende Gefahr zu übertreiben, um die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit eines Krieges zu überzeugen.

Es ging dabei vor allem um die Behauptung, der Irak könne seine Massenvernichtungswaffen binnen 45 Minuten zum Einsatz bringen. Campbell bestreitet, auch nur das Geringste mit dieser Einschätzung zu tun zu haben, und verlangte von der BBC eine Entschuldigung. Der Sender weigerte sich, seine Quelle zu benennen, das Außenministerium zeigte aber auf Kelly. Der sagte vor der parlamentarischen Untersuchungskommission aus, er glaube nicht, dass er die Quelle sei. Nach seinem Tod bestätigte die BBC jedoch, dass er es war. Kelly stand als Waffenexperte im Dienst des Verteidigungsministeriums und war als Waffeninspektor 37-mal im Irak. Er hatte an dem Regierungsdossier mitgearbeitet, sein Beitrag beschränkte sich jedoch auf historische Aspekte.

Hutton beschrieb gestern detailliert die Kette der Ereignisse bis zum Tod des Wissenschaftlers. Er versprach, seine Untersuchung „zügig und fair“ durchzuführen. Allerdings wird er damit erst am Montag in einer Woche beginnen, damit Kellys Beerdigung am Mittwoch nicht davon überschattet wird. Über die Todesursache gibt es kaum Zweifel: Alles deute auf Selbstmord hin, so habe der Pathologe festgestellt, sagte Hutton. Außerdem sei Kelly herzkrank gewesen, was seinen Tod zwar nicht ausgelöst, aber beschleunigt habe. Hutton liegen Dokumente der BBC, der Regierung und der Familie Kellys vor. Er will zunächst einen Zeugen aus dem Außenministerium anhören, um Kellys Expertise feststellen zu lassen. Danach will er die Zeugen in chronologischer Reihenfolge vernehmen, darunter Kellys Witwe, den BBC-Vorsitzenden Gavyn Davies, den Reporter Andrew Gilligan, der für den BBC-Bericht verantwortlich war, sowie zwei seiner Kollegen, die ebenfalls mit Kelly gesprochen hatten. Von Regierungsseite werden Blair, Campbell und Verteidigungsminister Geoff Hoon vorgeladen.

Hutton ist ein erfahrener Richter. Aber in seiner fast 50-jährigen Karriere hat er sich nicht gerade als konfliktfreudig erwiesen. Ob in seiner Amtszeit als höchster Richter Nordirlands oder seit seiner Berufung 1997 als Lordoberrichter, einer der 12 höchsten Richter Großbritanniens –, ob im Prozess wegen Menschenrechtsverletzungen der britischen Regierung, im Auslieferungsverfahren gegen den chilenischen Diktator Pinochet oder in der Verhandlung gegen den abtrünnigen Spion David Shayler – stets stellte er sich auf die Seite der Regierung.

Hutton sagte gestern, seine Untersuchung sei „keineswegs eine Gerichtsverhandlung gegen die eine oder die andere zweier Konfliktparteien“, er werde sich vielmehr auf die Ereignisse beschränken, die zu Kellys Tod führten. Charles Kennedy, Chef der Liberalen Demokraten, sagte, Hutton könne wohl kaum die Todesumstände untersuchen, ohne die Frage zu stellen, wie die Regierung das Geheimdienstmaterial über den Irak eigentlich benutzt habe. Es sei besser, sich mit der Untersuchung Zeit zu lassen, als eilig ein Ergebnis vorzulegen, das keinen zufrieden stellt.

Zumindest die Regierung wird jedoch zufrieden sein, wenn sich Hutton auf den Rahmen beschränkt, den er sich gestern so eng gesteckt hat. Kelly hatte die „Spin Doctors“ angeprangert, die Nachrichten einen regierungsfreundlichen Dreh geben sollen. Und er nannte einen Namen: Campbell, der geschickteste aller Spin Doctors. Das bestätigten zwei weitere BBC-Reporter, die mit Kelly gesprochen hatten. Einer der beiden hat das Gespräch aufgezeichnet.

Die Frage, ob Andrew Gilligan den Wissenschaftler wortgetreu zitiert hat oder den Radiobericht seinerseits etwas „sexier“ gemacht hat, ist im Grunde aber ein Ablenkungsmanöver, meint der New Statesman. Campbell habe nach dem Prinzip gehandelt, dass Angriff die beste Verteidigung sei: „Die Schlacht zwischen Alastair Campbell und der BBC hat das wichtigste Thema überlagert“, schreibt das Wochenblatt. „Nämlich die Frage, inwieweit dem britischen (und auch dem US-amerikanischen) Volk falsche Begründungen für den Krieg gegen den Irak untergejubelt wurden.“ Der Krieg und die fortdauernde Besetzung des Irak seien daher ein schwerer Missbrauch öffentlicher Gelder. „Das sind die Grundlagen für eine Untersuchung“, meint der New Statesman, „und nicht, wer etwas über wen in Radio 4 gesagt hat.“

Campbell hat stets erklärt, dass die Behauptung, der Irak könne seine Massenvernichtungswaffen binnen 45 Minuten zum Einsatz bringen, bereits im ersten Entwurf enthalten war, der ihm am 10. September vorgelegt wurde. Er sagte allerdings nicht, dass er am Tag zuvor eine Sitzung geleitet hatte, auf der ebendiese Behauptung diskutiert wurde. Der Parlamentsausschuss war überrascht. „Wir sind darüber besorgt, dass eine Sitzung, auf der ein Dossier diskutiert werden sollte, das der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im Auftrag von Ministern erstellen sollte, vom Sonderberater des Premierministers geleitet wurde“, heißt es in dem Bericht. Diese Sorge führte freilich nicht dazu, Campbells Rolle genauer zu untersuchen. Der Ausschuss sprach ihn mit einer Stimme Mehrheit von dem Vorwurf frei, auf das Dossier Einfluss genommen zu haben. Wenn Campbell aber am 9. September nichts von der Behauptung wusste, dass der Irak innerhalb von 45 Minuten zuschlagen könne, müssen die Geheimdienste diesen Passus über Nacht ohne Campbells Wissen eingefügt haben. Wer soll ihm das glauben …