Wissenschaftler tapsen im Cannabisnebel

Ein Amtsrichter in Bernau lässt Fachleute aus der ganzen Republik antanzen, um die Gefährlichkeit von Cannabis zu klären. Einig sind sich die Koryphäen nur darin: Sie wissen viel zu wenig. Für die Forschung müsse mehr getan werden

Das kleine Amtsgericht Bernau versucht in puncto Cannabispolitik Geschichte zu schreiben. Vier Kapazitäten der bundesdeutschen Cannabisforschung wurden gestern als Gutachter in die brandenburgische Stadt geladen: Ist Cannabis tatsächlich so ein gefährliches Betäubungsmittel, wie es populärwissenschaftlich immer wieder – jüngst auch vom Spiegel in einer Titelgeschichte über Drogenkonsum an Schulen – behauptet wird?

Anlass für den Vorsitzenden des Bernauer Schöffengerichts, Andreas Müller, dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist der Fall eines 19-Jährigen. Die Staatsanwaltschaft legt dem jungen Mann zur Last, an einen anderen Heranwachsenden 450 Gramm Cannabis abgegeben zu haben. Der geständige Angeklagte hat vor Gericht ausgesagt, dass er sich bei diesem Deal nicht bereichert habe, sondern sich lediglich ein paar Gramm für den Eigenbedarf verdient habe.

Alles deutet darauf hin, dass dieser Fall vor dem Bundesverfassungsgericht zur grundsätzlichen Entscheidung landen wird. An seiner kritische Haltung in Sachen Cannabisprohibition hat Amtsrichter Müller schon in der Vergangenheit keinen Zweifel gelassen. Bereits 2002 hatte er einen Prozess gegen einen 20-Jährigen ausgesetzt, der mit dreieinhalb Gramm erwischt worden war. Damals hatte Müller drei internationale Koryphäen in Sachen Cannabis aus der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland vor das Bernauer Gericht geladen und danach das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung angerufen, Cannabis habe nicht mehr die Gefährlichkeit, die der Droge früher beigemessen worden sei. Daher verstoße das Verbot gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. In einem taz-Interview hatte Müller wörtlich gesagt: „Der Staat hat nicht das Recht, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen.“

Im jetzigen Prozess gaben sich die deutschen Wissenschaftler, Prof. Renate Soellner von der FU Berlin, Prof. Stephan Quensel vom Bremer Institut für Drogenforschung, Dr. Raphael Gassmann von der Hauptstelle für Suchtgefahren und Prof. Rainer Thomasius vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf die Klinke in die Hand. Während Soellner bilanzierte, dass der Haschischkonsum weit weniger gefährlich sei, als dies der Gesetzgeber beim Erlass des Betäubungsmittelgesetzes angenommen habe, war es insbesondere Thomasius vorbehalten, die Gegenposition zu vertreten. Der war dem Amtsgericht vom Bundesgesundheitsministerium als Sachverständiger empfohlen worden.

Seine Position lässt sich auf folgenden Nenner bringen: Cannabis werde von Jugendlichen immer früher und immer intensiver konsumiert und sei gefährlicher als Alkohol, weil die Schädigung wesentlich früher eintrete. Insbesondere bei Jugendlichen im Alter von 12 bis 18 Jahren will Thomasius gravierende Entwicklungsstörungen festgestellt haben. Wenn in der Adoleszenzphase Cannabis konsumiert werde, bestehe die Gefahr, dass die Jugendlichen in ihrer Entwicklung stehen blieben.

In zwei Punkten waren sich die Gutachter jedoch einig: Eine seriöse Aussage zu den Folgen von Cannabiskonsum auf Grundlage von Zahlenmaterial sei nicht möglich, da die Forschung in der Bundesrepublik vollkommen unterbelichtet sei. Und: Der Heroinkonsum, so Gassmann, „nimmt ab, die Cannabissuchtproblematik steigt“. Daher müsse für die Forschung wesentlich mehr getan werden.

Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 1994 dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, die Gefährlichkeit von Cannabis wissenschaftlich neu prüfen zu lassen. Passiert ist seither nichts. Vielleicht macht eine neuerliche Vorlage vom Amtsgericht Bernau beim Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber endlich Beine. PLUTONIA PLARRE