Wer fleißig rappt und denkt

Ulf Poschardts „Vanity Fair“-Editorials sind bereits Klassiker der Trendforschung. Das zeigt „Das Beste aus 2007“, eine Raubkunst-Arbeit von Kito Nedo und Dominikus Müller in der Galerie Center

VON RONALD DÜKER

Es war einmal im wilden Berliner Westen. Lange Zeit vor Postleitzahlreform und Mauerfall lebten in Kreuzberg zwei Stämme. Die ließen sich, zumindest der Legende nach, messerscharf unterscheiden. Zum einen geografisch: 36 und 61, Oranien- bzw. Bergmannstraße. Zum anderen lebenspraktisch: Während die 36er Polizisten mit Steinen bewarfen, kompostierten die 61er zu Hause ihren Müll. Und wurden von den 36ern als „Futonficker“ beschimpft. Ein Futonficker, das ist einer, der den politischen Kampf ums Große und Ganze verraten hat, indem er sein ganzes Dasein Nebenwidersprüchen wie Umweltschutz oder gesunder Ernährung widmet. Ob es daran liegt, dass die allzu harten Futons mittlerweile aus der Mode gekommen sind?

Vom Futonficker war jedenfalls lange nichts zu hören. Auch nicht in den 43 Editorials, in denen Ulf Poschardt als Chefredakteur der deutschsprachigen Ausgabe der Illustrierten Vanity Fair ein Jahr lang die Richtung des Blattes vorgab. Er bekleidete diesen Posten von der ersten Ausgabe im Februar 2007 an und verlor ihn im Januar des folgenden Jahres, als der Verlag das am Kiosk schwächelnde Heft neu ausrichtete. So lassen sich Poschardts Artikel heute als geschlossenes Dokument eines bereits historischen publizistischen Moments lesen.

Wer aber kann das wollen – und warum? Diese Frage ließen die Berliner Kunstkritiker Kito Nedo und Dominikus Müller offen, als sie in der Galerie Center in der Lützowstraße das Ergebnis ihrer philologischen Recherchearbeit „Das Beste aus 2007“ präsentierten. Die beiden haben die von Poschardt verantworteten Hefte gesammelt und jedes einzelne Editorial nicht nur noch einmal (oder vielleicht zum ersten Mal) gelesen, sondern mit akribischer Hingabe verschlagwortet. In den schwarz gestrichenen Räumen der Galerie hängen nun nebeneinander ein Personen- und ein Sachregister an der Wand – zwei dünne Lagen Papier im DIN-A2 -Format, insgesamt 26 Seiten. Eine Schwarzlichtröhre lässt das Ganze in auratischem Glanz erstrahlen. Der zweite Teil der Arbeit ist ein schwarzes Heft. Es enthält neben den Registern auch die Quellen des Sprach-Destillats, also sämtliche Editorials bis zur Ausgabe 03/08, fotokopiert in schwarz-weißer Fanzine-Ästhetik und ohne Genehmigung des Condé-Nast-Verlags, in dem Vanity Fair erscheint. In einer Stückzahl von 200 Exemplaren wird diese Publikation als Kunstgegenstand für preiswerte fünf Euro an Besucher der Galerie verkauft.

Das Blättern darin ruft noch einmal in Erinnerung, was Vanity Fair unter Ulf Poschardt eigentlich gewesen ist: der Versuch, ein amerikanisches Hochglanzmagazin dem deutschen Markt anzupassen, und das unter der verschärften Bedingung einer wöchentlichen anstatt, wie in den USA, monatlichen Erscheinungsweise. Die Quadratur des Kreises sollte darin bestehen, die in Deutschland eher dünn gesäte Prominenz – Schauspieler, Schlagersänger, Politiker – Woche für Woche mit unvermutetem Glamour zu versehen. Poschardt versuchte die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens in seinen Editorials durch demonstrative Sorge ums Große und Ganze zu kaschieren. Man nennt das auch debattenfreudig: In staatstragender Leitartikler-Manier erhebt der Autor in jeder Zeile Anspruch auf höchste Bedeutsamkeit und signalisiert politisches Rückgrat im Geiste des FDP-Programms: „Neid verhindert Erfolg. Soziale Mobilität ist Grundvoraussetzung für gelingende Integration.“

Fotografische Illustrationen erhöhen die Schlagkraft solcher Sätze. Zum Beispiel im Editorial des Heftes 09/07. Auf der linken Heftseite sind Autonome in schwarzen Kapuzenpullovern zu sehen. Sie hängen ein Transparent („alles für alle“) aus dem Fenster eines womöglich besetzten Hauses. Bildunterschrift: „Ohne Ehrgeiz. Sozialkonservative Bewegung: die sogenannten Überflüssigen (mit Maske) wollen den Kapitalismus abschaffen. Vorbild: ein Film wie „Die fetten Jahre sind vorbei‘, in dem verwöhnte Jugendliche ein wenig rebellieren.“ Rechte Seite: Ein schwarzer Rapper mit dicker Goldkette. Bildunterschrift: „Voller Ehrgeiz. HipHop propagiert den Glanz des gesellschaftlichen Aufstiegs. Wer fleißig rappt, dichtet und denkt, bekommt Goldschmuck wie Ghostface Killah.“ Weshalb der Chefredakteur prognostiziert: „Die fetten Jahre kommen noch.“ Hat ihm die Geschichte Recht gegeben? Vanity Fair unter Poschardt, diesen Erfolg muss man heute neidlos anerkennen, war das Zentralorgan für radikale Realsatire. Und die längst vergessenen Futonficker? Es gibt sie noch. Sie verbergen sich im Sachregister nur hinter neuen Vokabeln: zum Beispiel „Ökoblockwarte“ und „erzkonservative Ökospießer“.

Unter diesen Schlagworten verbergen sich Menschen, die dem Chefredakteur einmal die Luft aus den Reifen eines nagelneuen Alfa Spider gelassen haben. „Wie bei allen Ökoblockwarten“, analysiert Poschardt diesen Übergriff, „überschattet der Sozialneid alle Motive zur Rettung der Welt.“ Denn was die selbsternannten Klimaretter nicht wussten oder wissen wollten: Ein Alfa Spider mit Dieselmotor verbraucht nur 6,8 Liter auf 100 Kilometer. „Die betagten Volvo-Kombis und der etwas antiquierte, qualmende VW-Bus mit dem Nummernschild einer linken Universitätsstadt werden verschont.“ Sportwagenhasser wie diese handeln aber nicht nur ungerecht und inkonsequent, sie fristen auch eine triste Existenz: „Folgt man der inneren Logik der Ökospießer und ihres Aktionismus, ahnt man, welch freudlose Welt ihnen vorschwebt. Sie lassen sich ihr Feindbild nicht durch Fakten vermiesen und sind daher wie alle Spießer: verbitterte Ignoranten, die aus Angst vor der Zukunft ihre Vision ins Gestern verlegen.“

Einen diesbezüglich lehrreichen Fehler konnten Vernissagenbesucher machen, die beim Kauf der Publikation – mit routiniertem Verweis auf die eigene Umhängetasche – auf die angebotene Plastiktüte verzichteten. Sie schlugen nicht irgendeinen Beutel aus, sondern eine Original-Vanity-Fair-Tüte. So dumm muss man sein: Falls „Das Beste aus 2007“, Stückzahl 200, in fetteren Jahren einmal zum gesuchten Multiple werden sollte, sind sie bloß im Besitz des halben Objekts. Aus alten Ökospießern werden wohl nie gute Kunstsammler. Oder mit Poschardt gesagt: „Oben ist noch viel Platz.“