Die Welt rauscht als Farbklecks vorbei

Die Berlinerin Michaela Fuchs ist die erfolgreichste blinde Radfahrerin in Deutschland: Auf dem Tandem schafft sie mit ihrer sehenden Partnerin schon mal 80 Kilometer in der Stunde. Sie hasst es, wenn sich behinderte Menschen „betüddeln“ lassen – und hat schon als Kind gelernt, zu kämpfen

„Als würde man durch eine Kamera sehen, die auf extrem unscharf gestellt ist“

von MICHAEL HAERING

Im Glasschrank ihres Berliner Apartments funkelt die berühmte Oper von Sidney auf handgroßen Medaillen einmal in Gold und zweimal in Silber. Die Pracht der Trophäen wird durch eine beinahe unmerkliche Nachlässigkeit getrübt. Michaelas Name wurde nicht eingraviert. Man hatte einfach vergessen, die Medaillengewinner der Paralympiade 2000 in der australischen Metropole genauso namentlich zu würdigen wie die Olymiasieger.

„Die meisten Leute, die sich für völlig nichtbehindert halten, sind doch gehirnamputiert“, scherzt Michaela Fuchs über alltägliche Diskriminierungen wie diese. Nein, verbittert wirkt die aus dem Schwarzwald stammende Schwäbin nicht, eher kämpferisch darum bemüht, die gängigen Urteile über Behinderte und NichtBehinderte durcheinander zu wirbeln.

Die erfolgreichste behinderte Rad- und Skilanglauffahrerin in Deutschland kämpft dafür, Behinderte aus ihrer Lethargie wachzurütteln. Viele „Menschen mit Defekten“, wie sie sagt, „ziehen sich zurück, weil sie das Gefühl haben, nicht gebraucht zu werden“. Um so mehr sei notwendig, zu beweisen, dass Behinderte mehr leisten können, als man ihnen allgemein zutraue.

Auf allen Kanälen wird über die Leichtathletik-WM oder die Tour de France berichtet. Die vom 2. bis zum 12. August im Kanadischen Quebec vom Internationalen Behinderten Sportverband ausgerichtete Weltmeisterschaft für Sehbehinderte und Blinde findet kaum Beachtung.

Einem nichtbehinderten Besucher fällt es nicht leicht, die Behinderung der erfolgreichsten deutschen Paralympionikin von Sidney mit einem Blick zu erfassen. Die Rad- und Skilanglauffahrerin hat alle 4 Gliedmaßen an der richtigen Stelle. Sie fährt nicht im Rollstuhl durch ihr kleines, behindertengerechtes Apartment in Berlin-Rudow, und sie schaut einem zur Begrüßung direkt in die Augen. Nur ihre helle Haut und die schlohweißen Haare wirken etwas befremdlich. „Ich bin kein Albino, sondern ich habe Albinismus!“, wehrt sie unausgesprochene Vorurteile ab. Albinismus ist eine lebensgefährliche Stoffwechselkrankheit, die aufgrund fehlender Pigmente in Haut, Haaren und Augen zu extremer Licht- und Hitzeempfindlichkeit führt. Ihre Pupillen flackern hin und her als versuche sie, eine Linse scharf zu stellen, wo es nichts scharf zu stellen gibt. Michaela ist von Geburt an blind, genauer gesagt sehr stark sehbehindert, maximale Sehfähigkeit 3 Prozent.

Die 33-Jährige tut alles, um ihr Gegenüber von der Normalität ihres Lebens zu überzeugen. Sie schaut auf ihr Handy, um die Uhrzeit abzulesen. Sie lehnt es ab, mit einer Blindenbinde oder einem Stock durch die Stadt zu laufen. „Es ist mein Ziel, dass man es mir nicht anmerkt, dass ich sehbehindert bin.“ Michaela fürchtet „als schwächeres Glied der Gesellschaft erkannt zu werden“. Sie will nicht „angreifbar“ erscheinen. Darum freut sie sich auch riesig auf Rex – einen Schäferhund, der ihr bald als Blindenhund gute Dienste leisten wird.

Sie mag es nicht, wenn Behinderte sich von ihren Betreuern so „betüddeln“ lassen, wie sie es nennt. Das sagt sie auch auf öffentlichen Veranstaltungen wie beim ökumenischen Kirchentag in Berlin vor einigen Wochen. Integration schön und gut, aber Integration erfordere auch ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Darum sei eine Pflege erforderlich, die von den Behinderten ausgehe. Dazu gehöre allen voran die freie Wahl der Betreuer durch den Behinderten. In dem christlichen Verein Pro Sportler engagiert sie sich, um Behinderte, besonders Frauen, für den Sport zu motivieren.

„Ich hatte das Glück, dass ich ein vernachlässigtes Kind war, weil ich so gelernt habe, zu kämpfen“, fasst Michaela ihre Alltagsphilosophie zusammen. Aber sie erkennt auch den Preis, den sie dafür bis heute bezahlt, ihre emotionale Bedürftigkeit. Ihre Eltern sind nicht damit klargekommen, dass die Tochter schwerbehindert ist. Der Vater flüchtete in den Alkohol und wurde immer gewalttätiger. Vielleicht hat sich das hyperaktive Kind in den Sport gestürzt, um zu beweisen, dass sie trotz ihrer Behinderung etwas wert ist. Vielleicht hat sie deshalb schon in der 7. Klasse die Jungs aus der 9. in allen Disziplinen hinter sich gelassen und auch schon mal, wenn es sein musste, den ein oder anderen verprügelt. Vielleicht verletzt es sie deshalb bis heute, wenn sie trotz all ihrer Medaillen bei Welt- und Europameisterschaften, trotz Olympiagold und zweifachem silbernem Lorbeerblatt vom Bundespräsidenten für besondere sportliche Leistungen das Gefühl hat, von den Ikonen des Leistungssports und von den Autoritäten des Alltags herablassend behandelt zu werden.

Ein Glück, dass eine auf Sehbehinderung und Blindheit spezialisierte Klosterschule im schwäbischen Heilbronn sie aufnahm. Hier trainierte sie das „visuelle Lernen“ mit speziell ausgebildeten Sonderpädagogen. Die Schärfung ihrer übrigen Sinne durch ausgefeilte Tast- und Hörübungen ermöglichen es ihr, ihr schattenhaftes Sehen so gut es geht zu kompensieren. Seit ihrer Geburt sieht die Sehbehinderte nicht viel mehr, „als würde man durch eine bewegliche Kamera sehen, die auf extrem unscharf gestellt ist“. So jedenfalls haben Mediziner es ihr erklärt, und so erklärt sie es den Nichtsehbehinderten.

„Die Leute, die sich für nichtbehindert halten, sind doch gehirnamputiert“

Beim Radfahren rauschen keine Wälder an ihr vorbei, sondern grünliche Farbkleckse am Horizont. Auf dem Weg zum Olympiastützpunkt in Hohenschönhausen begegnet ihr im Rudower Stadtpark nicht die Nachbarin, sondern eine Gestalt mit menschlichen Umrissen und einem braunen Fleck an der Seite. Michaela hat seit ihrer Kindheit gelernt, diese schattenhafte Welterfahrung zu einem mosaikartigen Bild zusammenzufügen. Darum ahnt sie, dass der Fleck der Boxer ist, der sie am Vortag noch angebellt hatte. Ihre Treffsicherheit ist bei Nachfragen beachtlich hoch, auch wenn das nicht für ein normales Leben in der Welt der Nichtbehinderten ausreicht.

Ehemalige Arbeitskollegen ließen sich jedenfalls nicht davon überzeugen, dass sie in der Lage sei, die Aufsichtspflicht gegenüber Kindern zu erfüllen, obwohl sie gelernte Erzieherin und Heilpädagogin ist. Solche Erfahrungen mit Nichtbehinderten nennt sie Mobbing. Denn im Gegensatz zu Erziehern mit Sehfähigkeit sehe sie beim Spiel mit Kindern nicht nur das, was vor ihr stattfinde, sondern auch das, was hinter ihr geschieht. Wenn auch ihr Sehvermögen massiv eingeschränkt ist, könne sie durch die Schärfung anderer Sinn wie Gehör und Tastsinn, Dinge sehen, die andere nicht bemerkten. Darum ist es für sie unverständlich, wenn sie keine Chance bekommt, ihre Fähigkeiten als Erzieherin unter Beweis zu stellen und weiterhin von der Sozialhilfe leben muss. Durch Leistungssport verdient ein Behinderter in Deutschland keinen Pfennig.

Auch auf dem Rad bleibt ein Rest Abhängigkeit bestehen, weil sie sowohl in der Halle als auch auf der Straße nur auf dem Tandem mit einer nichtbehinderten Pilotin fahren darf. Wann man angreift und überholt, entscheidet letztlich die Pilotin. Eine reibungsfreie Zusammenarbeit gibt es nur, wenn das Vertrauen stimmt. „Dann wird das Tandem zum Geschoss“, wie bei der letzten WM. Damals hat sie bis zu 80 km/h aufs Pflaster gelegt. Mit der 18-jährigen Fabienne Bernauer aus dem baden-württembergischen C-Kader hat sie eine Partnerin gefunden, mit der sie in Quebec und bei der Paralympiade in Athen 2004 wieder eine Goldmedaille gegen die starke Konkurrenz der Profis aus Spanien und den USA einfahren will.

Wenn sie sich an die Paralympiade in Sydney erinnert, ärgert sie noch etwas: Bei einer Ehrung der besten Berliner Sportler in Sidney trugen die Olympioniken auf einem Button an der Brust stolz ihre Sportart zur Schau, während auf den Schildern der Behinderten „Paralympics“ stand. „Meine Sportart ist nicht Paralympics, ich bin Rad- und Skilanglauffahrerin.“