Das französische Sicherheitsnetz

Der stilvolle Umgang mit dem Unerträglichen: Dafür ist das französische Kino berüchtigt, und davon findet sich viel in der französischen Filmwoche. Aber auch Themen der Soziologie wie der Blick des Forschers, der blind ist für die eigene Position

VON ANJA STREITER

Regional und zugleich eigenwillig international geht es in „Pas de repos pour les braves“ („Keine Pause für die Mutigen“) von Alain Guiraudie zu. Straßenschilder weisen nach Orten mit seltsam fremd aussehenden und doch vertraut klingenden Namen: Oncongue, Bairoute oder Glasgau. Die Hauptfigur, ein gelangweilter Jugendlicher, bewegt sich zwischen einem Dorf, das lebt, und einem Dorf, das stirbt. Der Film hebt zwar stilistisch ab, kann sich dann aber von einer Scholle im Südwesten Frankreichs nicht lösen. Er vagabundiert zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Homo- und Heterosexualität, zwischen Thriller und Pastorale. Am Ende ist alles und nichts passiert.

Der Held dieser überraschenden Bildwelten ist ein zwanghafter Erzähler, der nicht aufhört, seine wilden Vorstellungen über die ereignislose Wirklichkeit zu legen. Diese auch noch den Wahn umfassende Erzählerstimme gibt es in erstaunlich vielen Filmen der französischen Filmwoche, die von heute an im Cinema Paris und im Filmtheater am Friedrichshain stattfindet. Diese Stimme fungiert wie ein Sicherheitsnetz, das sich über die Erzählung einer Katastrophe legt. Am Ende war es nur eine Passage, eine Episode. Das ist das Bürgerliche, das man am französischen Film lieben oder hassen kann, dieser stilvolle Umgang mit dem Unerträglichen, das überall in dem von Traditionen und Konventionen geprägten Alltag aufscheint.

In „Vert paradis“, dem schon abgeklärten Debüt von Emmanuel Bourdieu, dem Sohn des Soziologen Pierre Bourdieu, ist das beispielhaft in Szene gesetzt. Denis Polyades spielt vorzüglich den jungen, dickköpfigen und doch braven Soziologen, der für eine Studie über die Ehelosigkeit im ländlichen Milieu an den Ort seiner Kindheit, ein Dorf im Béarn, zurückkehrt. Trotz der Ermahnungen seines väterlich gestrengen Dienstherrn an der Pariser Universität kommt er vom Pfade der Objektivität ab, verliert die Distanz zu seinem Material – zu den Lebensgeschichten seiner Freunde aus Kindertagen – und glaubt, gleich einem Regisseur, eine alte, unglückliche Liebesgeschichte zu einem Happy End umschreiben zu können.

Dabei ist er blind für die Position, die er selbst im Feld des Erforschten einnimmt. Das Ergebnis ist niederschmetternd, aber es gibt das Buch des Forschers und den Film des Filmemachers, und beide schließen die Trauer wie in einem Schatzkästchen ein.

Eltern sind in den Stoffen dieser Filmwoche zumeist tot oder abwesend. Meisterhaft setzt Anne Fontaine dies in „Comment j'ai tué mon père“ („Wie ich meinen Vater getötet habe“) in Szene. Der tote Vater zieht wie ein aus Afrika zurückgekehrter, bankrotter Albert Schweitzer in die Dachkammer der Villa seines Sohnes ein. Der ist als Gerontologe im großbürgerlichen Versaille zu viel Geld gekommen und hat Angst, selbst Vater zu werden. Die Abfolge der Generationen ist unterbrochen, alle sind lebendige Tote. Doch auch dieser bittere Film bindet das Unerträgliche noch in eine Erzählform ein, die es bannt.

Zunächst radikaler wirkt Isild le Bescos Erstlingsfilm auf DV, „Demi-Tarif“ („Halber Preis“). Einsamer als die Heldinnen, drei Schwestern im Grundschulalter, kann man kaum sein, verlassen von Vater und Mutter. Doch grüner kann das Paradies der Kindheit auch nicht sein. Zwischen toller Freiheit und bedrohlicher Regression zeigt Besco ihre Protagonistinnen, immer auf der Grenze zwischen unaussprechlicher Einsamkeit und jubilatorischer, verschworener Gemeinschaft. Auf der Ebene der Inszenierung changiert der Film ebenso ambivalent zwischen der Freiheit des improvisierten Spiels und einem unangenehmen Voyeurismus, der der verbrecherischen Haltung der abwesenden Eltern entspricht.

Siegfried, der Gesamtkunstwerker mit dem wagnerianischen Namen, inszeniert in „Sansa“ den Schauspieler Roschdy Zem als postbürgerlichen Migranten per se. Sansa ist sein Name, das klingt im Französischen so, als würde ihm etwas fehlen – „sans ça“. Tatsächlich fehlen ihm das Heimatland, die Eltern, Papiere und Geld. Als Straßen- und Überlebenskünstler begibt er sich auf eine unendliche Reise um die Welt. Regisseur und Hauptdarsteller reisen dabei nicht nur durch halb Europa, sondern auch durch Russland, Asien, Arabien und Afrika. Sansa ist citoyen du monde, ein Sans Papiers, ein obdachloser Weltenbürger. Er trifft Mr. Click, einen jüdischen Dirigenten, dessen Familie in der Schoah ausgelöscht wurde und der mit seinem Orchester um die Welt reist.

Die Migration ist dabei auch die Geschichte unzähliger Eroberungen, Sansa die Inszenierung eines frei umherschweifenden Begehrens vor dem Hintergrund der Tristesse der Welt. Am Ende kehrt Sansa heim nach Paris, lächelnd und unverwandelt.

Im Cinema Paris und im Filmtheater am Friedrichshain, ab heute